Deutschlands Kanzler Olaf Scholz auf dem Podium des Weltwirtschaftsforums.
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Eine nicht enden wollende Schlange an schwarzen Limousinen kreist von früh bis spät durch die Gassen der verschneiten schweizerischen Kleinstadt Davos. An fast jeder Ecke stehen Verkehrsordner – oder Scharfschützen, die mit ihren Gewehren von improvisierten Türmen auf einen herunterblicken.

Nach pandemiebedingter Zwangspause hat das Weltwirtschaftsforum (WEF) wieder zum Jännertermin in Davos stattgefunden. Abgesehen von der völligen Absenz Russlands ist alles so, wie es zuvor war: Menschen, die in den Nachrichten sind – Politikerinnen und Politiker, Führungskräfte, Wissenschafterinnen und Notenbanker –, treffen sich, und zwischendrin sorgen Klimaaktivistinnen wie Greta Thunberg für Aufsehen.

Wie immer gibt es auch Kritik: Vielen gilt Davos als Versammlung blasierter Superreicher, die mit Privatjets anreisen und sich dann als Klimaschützer inszenieren. Bereits vor Beginn des Forums versammelten sich etwa auf dem Postplatz in Davos rund 300 Menschen, um für Klimagerechtigkeit zu demonstrieren.

First Lady Selenska wirbt für zusätzliche Unterstützung der Ukraine.
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Ukraine ruft nach mehr Waffen und Hilfen für den Wiederaufbau

Eine Frau, die nur kurz ihre Katzen füttern wollte, liegt tot in ihrem Garten, daneben kauert ihr völlig verzweifelter Mann, dahinter ist noch eine Leiche zu sehen. Es dreht einem fast den Magen um. Im Ukraine-Haus in Davos zeigt eine Ausstellung mit dem Titel War Crimes sehr explizit die Folgen des russischen Angriffskriegs. Das Haus steht inmitten der Promenade in Davos, wo früher das Russische Haus stand und jetzt die Ukraine das Forum dominiert.

Präsident Wolodymyr Selenskyj, seine Ehefrau Olena Selenska, Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko, Digitalminister Mykhailo Fedorow: Viele hochrangige Vertreterinnen und Vertreter der Ukraine sind entweder direkt nach Davos gekommen oder haben sich per Livestream zugeschaltet. Sie haben zwei Hauptforderungen im Gepäck: Der Westen muss jetzt sofort die Ukraine mit mehr schweren Waffen versorgen, damit Russland besiegt werden kann. Es gibt keine Alternative. Und: Schon jetzt muss die Welt in den Wiederaufbau investieren, weil die Situation der Ukraine alle betrifft.

Besonders First Lady Selenska wirbt für zusätzliche Unterstützung für ihr Land, etwa auch über ihre Stiftung. Wirtschaftsministerin Swyrydenko erklärt, dass es eine Versicherung für Investitionen geben solle. In Davos verfolgen mehr als 1500 finanzkräftige Manager und Managerinnen die Podiumsdiskussionen, über Livestreams und Medien noch viel mehr. Russen wurden keine eingeladen.

Die Solidarität mit der Ukraine ist spürbar. Auf vielen Podien ist der Satz zu hören: "Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen." Finnlands Premierministerin Sanna Marin: "Sollte Russland siegen, wäre das ein Zeichen dafür, dass man einfach in ein anderes Land eindringen kann." EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigt weitere Kredite an. Marin sagt, die Ukraine könne auf ihr Land zählen, solange das nötig sei – egal, ob es fünf, zehn, fünfzehn oder mehr Jahre brauche. Eine breite Front sichert mehr Waffen zu. Es klinge paradox, sagt Nato-Chef Jens Stoltenberg, aber: "Waffen sind der Weg zum Frieden." Der polnische Präsident Andrzej Duda, Finnlands Außenminister Pekka Haavisto und Litauens Präsident Gitanas Nauseda drängen auf Kampfpanzer, nur Deutschlands Kanzler Olaf Scholz zögert. Er handelt sich damit nicht nur den Groll von Selenskyj ein, der mehr Tempo fordert, bevor die Tyrannei die Demokratie überhole, sondern auch schlechte Presse bei sich zu Hause in Deutschland.

"Wer die Ukraine nicht liebt, soll zur Hölle fahren", singen zwei Kinder, die in einem Video im Ukraine-Haus fröhlich durch das zerbombte Cherson spazieren. Es beschreibt den generellen Eindruck aus Davos: Das ukrainische Volk ist trotz der fortwährenden Angriffe nicht gebrochen – eher im Gegenteil. Es gibt die klare Marschrichtung, aus dem Land schon jetzt einen modernen europäischen Staat zu bauen. Fehlt nur mehr der Friede.

Auch Klimaaktivistin Greta Thunberg nahm am Weltwirtschaftsforum teil.
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Aus dem Freihandel wird ein neuer Klimaprotektionismus

Gleich zu Beginn des Forums legt von der Leyen einen aufsehenerregenden Auftritt hin: Die Präsidentin kündigt den sogenannten "Net Zero Industry Act" für die EU an. Es geht darum, Unternehmen mit Milliardensubventionen von der Abwanderung aus Europa abzuhalten und sie dazu zu bewegen, in klimafreundliche Zukunftstechnologien zu investieren. Von der Leyens Ansage ist eine Reaktion auf ein Gesetz in den USA vom vergangenen Sommer: den "Inflation Reduction Act" (IRA). Er sieht vor, dass Unternehmen aus grünen Bereichen, die in den USA tätig sind, 369 Milliarden US-Dollar an Subventionen unterschiedlicher Art erhalten sollen.

In der EU geht deshalb die Sorge um, dass die USA Unternehmensstandorte abwerben wollen. "Es ist kein Geheimnis, dass manche Elemente des IRA zu Sorgen in Europa führen", sagt von der Leyen. Ohnehin schon stehen die Unternehmen des Kontinents wegen exorbitant hoher Energiepreise unter Druck, internationale Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen. Nun kommt noch die Verlockung aus den USA obendrauf.

Der britische Millionär Phil White fordert beim Weltwirtschaftsforum in Davos, Steuern für Superreiche einzuführen. Der Reichtum müsse reduziert werden, "um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen".
DER STANDARD

Von den Leyens Ansage fügt sich in ein Muster, das sich in Davos zeigt: Früher wurde der freie Handel beschworen und der Abbau von Schranken gefeiert, zumindest innerhalb wohlhabender Länder. Heute schützen Staatenlenker tendenziell ihre Wirtschaftsräume – und schirmen sie mit Billionensubventionen ab, so wie in Form des IRA. Beobachter sprechen vom neuen Protektionismus, der häufig im Gewand des Klimaschutzes daherkomme. Rückzug in wirtschaftlicher Hinsicht ist nicht nur beim Verhältnis zwischen EU und USA angesagt, sondern auch in den US-chinesischen Beziehungen. Die Verwerfungen der Zero-Covid-Politik und die autoritäre Politik des Staatschefs Xi Jinping stellen US-Konzerne wie Apple vor Probleme. Nun gebe es immer mehr "Rhetorik" über Decoupling, sagt Anne Richards, Chefin des US-Vermögensverwalters Fidelity – also das Zurückfahren der US-chinesischen Handelsbeziehungen. "Eine komplette Entkopplung wäre katastrophal für die Weltwirtschaft", findet sie.

Europa werden bei der Neuaufstellung der Wirtschaftsräume und deren tendenziell stärkerer Abschottung keine guten Karten gegeben. Wegen der hohen Energiepreise drohe "in Europa durchaus eine Deindustrialisierung", sagt der Chef einer Bank im Hintergrundgespräch. Unternehmen werden am Weltmarkt schlicht nicht mehr bestehen können. Der Ökonom Ricardo Hausmann von der US-Uni Harvard glaubt gar, dass energieintensive Industrien längerfristig ganz aus Europa verschwinden werden. Der Grund: Der Kontinent ist vergleichsweise arm an erneuerbarer Energie, vor allem Sonnenkraft. Und eben jene Erneuerbaren lassen sich – im Vergleich zu Öl und Gas – viel schlechter von Ort zu Ort transportieren. Es braucht aber die Erneuerbaren für die klimaneutralen Industrien der Zukunft. Diese würden künftig also dorthin wandern, wo auch die Energie ist, sagt Hausmann. Dabei handelt es sich vor allem um den Nahen Osten und mittelfristig Afrika.

Das Bild 'Colour of Resilience' hängt im Flur des Alpine Resort in Davos. Es ist ein Gemeinschaftskunstwerk vertriebener Gemeinschaften aus vier Kontinenten.
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Künstliche Intelligenz: Viel mehr als nur ein Buzzword

Führungskräfte, die künstliche Intelligenz (KI) bisher als bloßes Buzzword abgetan haben, dürften spätestens in Davos bemerkt haben: Alle Jobs werden sich dadurch verändern. Und zwar auch ihre eigenen, nicht nur jene von Industriearbeitern, wie manche geglaubt hätten. In vielen Bühnendiskussionen war "generative KI" wie etwa die Software Chat GPT Thema. Der Punkt sei erreicht, an dem praktisch alle verfügbaren Arbeitskräfte beschäftigt seien – die Hoffnung von Führungskräften auf den Bühnen war, dass sich das Wirtschaftswachstum dank Automatisierung dennoch fortsetze. Rechnungsbearbeitung, Kreditanträge in Banken oder die Mediaplanung in Agenturen waren Beispiele für Prozesse, die man gerne KI überlassen will.

Die Optimisten auf der Bühne glauben, dass KI Jobs zwar verändern, aber nicht ersetzen wird und dass KI die Arbeitsqualität verbessern soll. Von "Reskilling" war viel die Rede, also der großen Aufgabe, der Belegschaft neue Fähigkeiten beizubringen, etwa "Prompt-Design": Wie formuliert man Anfragen an KI so, dass brauchbare Ergebnisse entstehen? KI werde eine Art "Arbeitskollege" werden, dem man Aufgaben zuteilt, während man sich selbst Aufgaben widmet, bei denen Menschen besser sind – darunter jene, die Empathie erfordern oder bei denen man Zusammenhänge erkennen und die richtigen Fragen stellen muss.

Fragen der nationalen Sicherheit wurden ebenfalls diskutiert, falls KI in falsche Hände gerät. Interesse gab es überdies am "Metaverse" – Meta/Facebook will leichtere Brillen auf den Markt bringen, die man per Sprache oder mit einer Art Cursor in der Hand steuern soll – sowie an Quantencomputern, die mit ihrer Rechenkraft nicht nur Passwörter knacken, sondern auch die Finanzbranche durcheinanderwirbeln sollen.

Stimmungsbarometer Davos

Hingefahren sind die Teilnehmer nach Davos mit denkbar schlechter Laune: Die wirtschaftlichen und politischen Aussichten seien düster wie nie, ergab eine Umfrage des WEF unter 1200 Expertinnen und Führungskräften. Im Lauf der Veranstaltung verbesserte sich aber die Stimmung. "Wir erleben ein Hochgefühl gewisser Zeichen von Erleichterung hier in Davos", fasste es der Ökonom und ehemalige US-Finanzminister Larry Summers bei einer Abschlussveranstaltung zusammen. "Populisten haben Wahlen verloren, Europa ist nicht erfroren, eine Rezession ist ausgeblieben, China hat seine Politik gegenüber der Welt geändert, und die Inflation hat sich reduziert."

Trotz der Polykrise in den Bereichen Klima, Geopolitik und Wirtschaft ortet die Weltgemeinschaft im Kleinen, wie sie sich hier in Davos versammelt, also Anzeichen einer Besserung. Zumindest einige. (Joseph Gepp, Martin Kotynek und Rainer Schüller aus Davos, 20.1.2023)