Beim Ringen um die zukünftigen Waffenlieferungen der westlichen Staaten an die Ukraine beim Treffen im deutschen Ramstein am Freitag ging es auch um eine grundsätzliche Frage, die nach einem Jahr Krieg noch nicht beantwortet worden ist: Was ist eigentlich das Ziel der Nato in diesem Konflikt?

Geht es darum, Russland einen Sieg zu verwehren, wie es deutsche und andere westeuropäische Politiker immer wieder vorsichtig formulieren? Oder ist das Ziel, Russland zu besiegen und der Ukraine zum Sieg zu verhelfen, wie aus Polen, den baltischen Staaten und zunehmend aus den USA ertönt?

Wenn der Westen genügend hochmoderne Waffensysteme liefert, dann ist die ukrainische Armee der russischen klar überlegen.
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Im ersteren Fall sollte der Krieg nur so lange geführt werden, bis Moskau zu einer Verhandlungslösung bereit ist, die die Ukraine als lebensfähigen Staat erhält. Die Krim und weite Teile des Donbass würden in diesem Fall unter russischer Kontrolle bleiben, womöglich würde der jetzige Frontverlauf eingefroren werden. Ein hoher Preis für die Ukraine, aber besser als ein endloses Blutvergießen, lautet das Argument.

Der andere Weg würde bedeuten, der Ukraine die Mittel in die Hand zu geben, ihr gesamtes Staatsgebiet zu befreien, einschließlich der Krim. Das entspricht dem Völkerrecht, wird von Präsident Wolodymyr Selenskyj gefordert und von der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung unterstützt. Und nur so, sagen die Befürworter, könne man die großrussische Expansionspolitik stoppen, nachhaltig Frieden schaffen und letztlich andere Aggressoren abschrecken.

Horrorszenario

Aber obwohl westliche Politikerinnen und Politiker stets beschwören, dass es allein an der Ukraine liege, bis zu welchem Punkt sie den Krieg weiterführt, bereitet diese Zielsetzung vielen von ihnen Sorgen. Neben der Gefahr einer nuklearen Eskalation wächst auch die Angst vor massiven inneren Turbulenzen in Russland, sollte Wladimir Putin in der Ukraine völlig scheitern. Ein "failed state" mit tausenden Atomwaffen ist ein Horrorszenario.

All das müssen die Verbündeten bedenken, wenn sie nun entscheiden, ob sie der Ukraine Kampfpanzer und andere Waffensysteme in die Hand geben, die weniger der Verteidigung als der Rückeroberung ihres Landes dienen. Immer mehr Militärexperten gehen davon aus, dass dies möglich ist: Wenn der Westen genügend hochmoderne Waffensysteme liefert, dann ist die ukrainische Armee der russischen klar überlegen. Ein Sieg Kiews wäre der schnellste Weg zu einem Kriegsende.

Dafür aber müsste das Zögern bei den Waffenlieferungen ein Ende haben. Denn bisher wurde die Ukraine zwar immer weiter aufgerüstet, aber nicht schnell genug, um den russischen Militärmoloch niederzuringen. Bleibt es auch jetzt bei einer Politik des zaghaften Mittelwegs – "Wir liefern ein paar Kampfpanzer, aber ja nicht zu viele" –, dann wird der Krieg bloß in die Länge gezogen.

Für den Weg zum Verhandlungsfrieden fehlt bisher ein Partner auf der russischen Seite, mit dem man ernsthaft reden kann. Auch Putin scheint nicht mehr zu wissen, was er in der Ukraine eigentlich erreichen will.

Aber wenn die USA und Europa den vollen Einsatz für die Befreiung der Ukraine scheuen, dann sollten sie das offen aussprechen und sich nicht von Selenskyj in einen Konflikt treiben lassen, den sie eigentlich nicht wollen. Andernfalls wäre jetzt der Augenblick gekommen, an dem weder Berlin noch andere bei Waffenlieferungen bremsen dürfen. (Eric Frey, 20.1.2023)