"Ich will mich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern mit dem, was vor uns liegt", so Mikl-Leitner.
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Nur noch 28 Prozent würden Johanna "Hanni" Mikl-Leitner direkt zur Landeshauptfrau wählen, wenn dies möglich wäre (Market-Umfrage für den STANDARD). Vor wenigen Monaten waren es noch 34 Prozent. Die ÖVP selbst steht bei 39 Prozent, satte zehn Prozentpunkte unter dem Ergebnis der Landtagswahl 2018. Damals trat Mikl-Leitner als Nachfolgerin von Erwin Pröll an und errang die absolute Mandatsmehrheit. Das hatte nicht nur mit ihrer Strahlkraft zu tun, es lag auch an jener von Sebastian Kurz, der sie damals, auf dem Höhepunkt seiner Macht, tatkräftig unterstützte. Die Bundespolitik ist ein Faktor in Niederösterreich. Damals. Und heute. Jetzt schlägt der Absturz der Bundes-VP nach dem schmählichen Ausscheiden von Kurz auch auf Niederösterreich durch. Die absolute Mehrheit ist so gut wie verloren. Wenn die Landeshauptfrau-Partei unter die jetzt prognostizierten 40 Prozent fiele, wäre das eine ziemliche Katastrophe.

"Es geht um alles!"

Diesmal liegt es um einiges mehr an Mikl-Leitner selbst, wie gut abgesichert die Macht der ÖVP in Niederösterreich bleibt. Einen umso dringenderen Unterton erhält daher der Satz, den Mikl-Leitner bei jedem längeren Gespräch mindestens einmal auf den Tisch knallt: "Es geht um alles!"

Wenige Stunden später wird sie das in ihrer Rede beim offiziellen Wahlkampfauftakt am 9. Jänner in überaus theatralischer Weise wiederholen. Vor der Kulisse der andächtig lauschenden 3.200 Parteigetreuen, vor dem Hintergrund einer irgendwie bedeutungsvoll wabernden Musik spricht Mikl-Leitner ganz langsam und mit Betonung jedes einzelnen Wortes: "Es steht viel auf dem Spiel ..." Und noch einmal, ein drittes, ein viertes Mal: "Es steht viel auf dem Spiel ..." Sie bittet darum, dass sich alle ganz stark einbringen, dass sie "alles geben", denn: "Diesmal steht alles auf dem Spiel."

Ein linker Spötter verlinkt das Video dieser Rede auf Twitter und schreibt drüber: "Eröffnung des Scientologen-Kongresses 2023".

Das Gegenüber einbeziehen

Johanna Mikl-Leitner ist, bei aller Kontrollsucht der niederösterreichischen VP, dennoch keine manipulative Sektenführerin. Dafür blitzt bei ihr zu oft recht sarkastischer Humor durch, dafür ist sie zu sehr bereit, über reale Probleme auf vernünftige, das Gegenüber einbeziehende Weise zu reden: darüber, warum die neuen, strengeren Vorschriften für Kredite an Häuslbauer nicht so streng sein sollten; warum es vernünftiger ist, die Hilfen für die Energierechnung gleich von der Stromrechnung abzuziehen, statt aufs Konto zu überweisen; warum sie ihre eigene Ansage von vor zwei Jahren ("keine neuen Windräder mehr in Niederösterreich") über Bord geworfen und die Windradzonen ausgeweitet hat. Und wie sie gedenkt, ihre bisher eher gescheiterte "Landarztoffensive" doch noch umzusetzen.

Mikl-Leitner: "Wir müssen als ÖVP durch Arbeit das Vertrauen zurückgewinnen."
Foto: Matthias Cremer (2), APA / Helmut Fohringer

Der Griff aufs Landesstudio

"Hanni" Mikl-Leitner hat auch ihre unkontrollierten Momente und eine scharfe Zunge. Sie betont, dass sie sich ja für eine zehn Jahre alte Bemerkung über "rotes G'sindl", die im Zuge der staatsanwaltlichen Handy-Auslesung ihres damaligen Sektionschefs im Innenministerium bekannt wurde, entschuldigt habe. Sie hat auch eine Art rationale Erklärung für ihren flotten Sager, dass man in mageren Zeiten nur "drei Ballkleider" statt zehn im Kasten haben muss (der Sager fiel bei einem Hofburgball). Die Wahrheit ist, dass Mode für sie eine ziemlich große Rolle spielt. Ihre diskret elegante Kleidung ist mit einem gewissen Kennerinnenblick ausgesucht – in den letzten Jahren etwas konservativer. In früheren Jahren konnten überraschte Radfahrer am Donauufer bei ihrem Wohnort Klosterneuburg die Landeshauptfrau im weißen Lederdress beim Inlineskaten mit ihren Töchtern bewundern.

Aber sie ist eben auch die Chefin einer durchorganisierten Machtmaschine, die seit Urzeiten in Niederösterreich herrscht, das wiederum schwarzes Kernland, nicht nur für die Österreichische Volkspartei, ist, sondern auch für die Republik überhaupt. Wer in Niederösterreich die Macht hat, hat auch sehr viel Macht im Bund. Und Macht besteht in hohem Maße darin, die Vorherrschaft über die Begriffe zu erringen, bestimmte Vorstellungen in den Köpfen der Leute zu verankern, der Realität einen eigenen "Spin" zu geben. "Framing" nennt das die Politikwissenschaft: die Dinge in einen bestimmten Rahmen setzen.

Enges "Miteinander"

Extrem ausgeprägt ist das im eisernen Griff, in dem die ÖVP Niederösterreich bisher das ORF-Landesstudio hatte. Hier zeigt sich die Kehrseite der absurden Kontrollsucht der Landeshauptfrau-Partei. Man dachte, über einen willfährigen Chefredakteur die Öffentlichkeit massiv beeinflussen zu können. Doch jetzt hat man die Sache übertrieben. Die Causa "Einflussnahme der Politik auf den ORF" wird untersucht, der Eindruck ist, zumindest für eine interessierte Öffentlichkeit, verheerend.

Vor diesem Hintergrund wird der "Alles steht auf dem Spiel"-Slogan gehämmert. Aber was ist dieses "alles" eigentlich? Wenn man Mikl-Leitner das fragt, kommt ein zweiter, landauf, landab strapazierter Slogan: Es gehe um das "Miteinander". Tatsächlich gehört der ungezwungene, leutselige, aber nicht anbiedernde Umgang mit dem Wahlvolk zu den Stärken von Mikl-Leitner. Dass sie Wert auf "Miteinander" legt, könnte man ihr abnehmen.

Chaos, Propaganda und Wahlverluste

Wenn die ÖVP in Niederösterreich zu sehr verlöre, dann wäre das "Miteinander-Leben" in Gefahr. Chaos bräche dann aus, so kann man Mikl-Leitner interpretieren. Zu diesem Zweck malt die VP-Propaganda unablässig die Horrorvision, dass sich SPÖ-Chef Franz Schnabl und FPÖ-Chef Udo Landbauer zusammentun könnten, um die ÖVP zu kippen und einander in den Landeshauptmannsessel zu hieven. Das sagt auch Mikl-Leitner im Gespräch so. Wie wenig realistisch das ist, kann man auf hier nachlesen. Und was Mikl-Leitner von jemandem hält, der wie Udo Landbauer ganz weit rechts steht, ist jedermann in ihrem Umfeld bekannt.

Aber natürlich würde der zurzeit sicher scheinende Verlust der absoluten Mehrheit die VP Niederösterreich einigermaßen aus der Bequemlichkeitszone bringen. Mikl-Leitner sagt zwar, dass 99 Prozent der Regierungsbeschlüsse einstimmig erzielt worden seien (die Landesregierung in St. Pölten ist nach dem Proporzsystem in der Landesverfassung aus allen Parteien im Landtag zusammengesetzt) und dass 98 Prozent der Beschlüsse im Landtag "mit einem Partner" gefallen seien; aber je nach Höhe des Wahlverlusts würde das Regieren doch um einiges mühsamer.

Man muss das Thema "Stil in der Politik" nur anzutippen, schon sprudelt es aus der Landeshauptfrau heraus: "Fairness", "aufgeheizte Stimmung", "Polarisierung", "Radikalisierung", "anonyme Anzeigen" – "nach dem 29. Jänner muss das in NÖ ein Ende haben".

Mikl-Leitner mit ihrem Mentor, Landeshauptmann Erwin Pröll.
Foto: Matthias Cremer (2), APA / Helmut Fohringer

Stil und Substanz

Dies alles ist natürlich auch Teil des VP-"Framings", aber es schimmert auch die Angst vor dem erfolgreichen FPÖ-Radikalismus durch. Das führt dann zu Sagern wie jenem, es solle Haftstrafen für sich festklebende Klimaschützer geben (weil sie Rettungsfahrzeuge behinderten). Eine Idee, die sowohl vom Sprecher des Roten Kreuzes, Gerry Foitik, wie vom Wiener Polizeipräsidenten (!) Gerhard Pürstl eher als Populismus abgetan wird. Mikl-Leitner kann eben auch ganz schön populistisch sein, wenn der Hut brennt. So viel zum Stil. Was ist mit der Substanz?

Ein sehr erfahrener, eher bürgerlicher Politikbeobachter in der Hauptstadt St. Pölten urteilt ziemlich harsch: "Mikl-Leitner hat keine Leuchtturmprojekte zustande gebracht wie seinerzeit Erwin Pröll." Der habe Niederösterreich nicht nur flächendeckend mit Kreisverkehren bedacht, sondern etwa das Institute for Science and Technology (ISTA) nach Klosterneuburg und das Krebsforschungs- und Therapieinstitut Med Austron nach Wiener Neustadt geholt. Und er habe darüber hinaus die überaus reiche Kulturförderung im Land initiiert. Mikl-Leitner sei keine schlechte Managerin, aber in der Abteilung "Visionäres" fehle es noch, sagen durchaus wohlwollende Beobachter.

Arbeitsplätze in der Region

Damit konfrontiert, wird Mikl-Leitner heftig. Sie habe die Pharmafirma Boehringer-Ingelheim nach Niederösterreich gebracht, die "größte Betriebsansiedlung unserer Geschichte". Ein "Haus der Digitalisierung" sei im Entstehen. Die Landesgesundheitsagentur habe die Gesundheitseinrichtungen des Landes zusammengeführt und sei eines der größten Reformprojekte der Zweiten Republik. Dass Spitäler unter Personalnot leiden und es schwierig ist, Landarztstellen zu besetzen, sei nicht nur in Niederösterreich der Fall. Man mache auch ernst mit der Energieunabhängigkeit, Niederösterreich liefere 50 Prozent der Windkraft Österreichs. Die Photovoltaikanlagen hätten sich vervierfacht. Die Kinderbetreuung werde aufgestockt und so weiter.

Wenn man sie fragt, wo ihre persönlichen, weltanschaulichen Wurzeln liegen, wo sie eine christlich-soziale Partei wie die ÖVP im 21. Jahrhundert sieht, kommt Solides: "Mich hat das Aufwachsen am Eisernen Vorhang geprägt, wo ich miterleben konnte, wie Niederösterreich zu prosperieren begann." Mikl-Leitner wurde in eine Familie aus Gewerbetreibenden geboren, "wir hatten ein schönes Zuhause, mit einer funktionierenden Familie. Ich habe in der Greißlerei meines Vaters arbeiten müssen, das war eine gute Schule." Vor einigen Jahren veröffentlichte Mikl-Leitner ein Foto ihrer (Doppel-)Hochzeit 1992. Sie und ihre Zwillingsschwester Cornelia heirateten am selben Tag. Beim Wahlkampfauftakt waren ihr Mann und ihre beiden erwachsenen Töchter dabei, generell hält sie aber ihr Privatleben bedeckt. Was sie immer schon beschäftigte, war die Strukturschwäche des Landes: "Als ich in der Schule war, haben wir Stunden gebraucht, um nach Wien zu kommen. Auspendeln war damals die Norm." Heute ist sogar eine gewisse Stadtflucht feststellbar, besonders seit der Corona-Pandemie. Städter in kreativen Berufen, in denen Teleworking leichter umsetzbar ist, pendeln nach Niederösterreich ein.

Mikl-Leitner mit Kanzler Karl Nehammer.
Foto: Matthias Cremer (2), APA / Helmut Fohringer

Vertrauen verspielt

Nach dem Realgymnasium in Laa an der Thaya wechselte sie an die Handelsakademie, ebenfalls in Laa. Mikl-Leitner studierte danach an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie unterrichtete bis 1990 an der Bundes-Hak in Laa, dann absolvierte sie das "Hoffnungsvollen-Trainee-Programm" der Industriellenvereinigung. 1995 übernahm sie die Marketingleitung der VP Niederösterreich, 1998 war sie Landesgeschäftsführerin, auf Wunsch von Erwin Pröll, und organisierte den Landtagswahlkampf. 2011 wurde sie Innenministerin (wieder auf Wunsch Prölls), 2016 ging sie zurück nach Niederösterreich, als Vize-Landeshauptfrau. Ab 2017 war sie Landesparteichefin.

Der Übergang von Pröll zu Mikl-Leitner glückte reibungslos. Zweifellos pflegt sie auch einen anderen Stil als ihr Vorgänger. Pröll regierte im Stil des "aufgeklärten Absolutismus", mit gelegentlichen cholerischen Ausbrüchen. Er unterstützte Künstler wie Hermann Nitsch, die in der niederösterreichischen Kernwählerschaft nicht wirklich eine große Fanbasis hatten. Dieses Renaissancefürsten-Mäzenatentum ist bei Mikl-Leitner nicht zu bemerken. Trotzdem hatte sie sehr lange sehr hohe Beliebtheitswerte.

"Eigentum, Leistung, Familie"

Was ist die ÖVP für sie? Mikl-Leitner: "Unsere zentralen Werte sind Eigentum, Leistung, Familie mit einer entsprechenden Politik." Nicht sehr überraschend. Vielleicht kommt noch etwas, derzeit liest sie das Buch 21 Fragen für das 21. Jahrhundert des Pop-Wissenschaftsautors Yuval Noah Harari.

Was erachtet sie als wichtig für das 21. Jahrhundert? "Wir müssen durch Arbeit Vertrauen zurückgewinnen." Ja, eh, könnte ein flapsiger Kommentar dazu lauten. In Wahrheit ist dies das sehr verklausulierte Eingeständnis, dass die ÖVP (hauptsächlich im Bund) Vertrauen verspielt hat.

Etwas zuzugeben, vielleicht sogar Fehler einzugestehen ist nicht der Stil der ÖVP, schon gar nicht jener in Niederösterreich. Zum großen Irrtum der Konservativen, dem vermeintlichen Messias Sebastian Kurz auf den Leim gegangen zu sein, ist von Mikl-Leitner nur der allerknappste Kommentar zu hören: "Ich will mich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern mit dem, was vor uns liegt."

Doch was liegt vor der Bundes-ÖVP? In Umfragen liegt die Partei wieder bei rund 20 Prozent – wo sie auch vor dem Kurz-Putsch gegen Reinhold Mitterlehner rangierte. Die FPÖ hingegen bewegt sich in Richtung 30 Prozent. Die ÖVP hat derzeit Karl Nehammer als Parteichef, dem Johanna Mikl-Leitner "Respekt und Wertschätzung" entgegenbringt. Er sei gerade jetzt als Bundeskanzler geeignet, weil er "eine multiple Krise wie keiner vor ihm" bewältigen müsse.

Der Vormarsch der FPÖ

Mikl-Leitner gilt sowohl als die "Erfinderin" von Sebastian Kurz (sie machte ihn zum Staatssekretär für Integration, als sie Innenministerin war) wie auch von Karl Nehammer. Beides dürfte leicht übertrieben sein. Kurz war von Anfang an auf Aufstieg in der Partei gepolt. Mikl-Leitner mag durchaus Aufstiegshilfen geleistet haben, "erfunden" hat sich Kurz jedoch selbst.

Nehammer wiederum kommt politisch aus dem ÖAAB Niederösterreich, aber es gab nicht viele Alternativen zu ihm. Als im Sommer vergangenen Jahres die Bevölkerung von der Energiepreisteuerung überrollt wurde, setzte es sogar verhüllte Kritik von Mikl-Leitner am Kanzler: "Es braucht Führungsqualitäten der gesamten Bundesregierung."

Mikl-Leitners Stärke ist der direkte Kontakt zu Wählerin und Wähler. Mäßige Umfragewerte machen dies auch einigermaßen wichtig.
Foto: Matthias Cremer (2), APA / Helmut Fohringer

Viel deutlicher sind ihre Absetzversuche von der Bundespartei. Die VP Niederösterreich will plötzlich nur noch die "blau-gelbe Niederösterreichpartei" sein, Landesgeschäftsführer Bernhard Ebner verstieg sich sogar zu der Aussage: "Wir waren nie die ÖVP. Wir waren immer blau-gelb."

Keine Patentlösung

Das wird nichts nützen. Die VP in Niederösterreich leidet auch unter dem Syndrom so vieler konservativer Parteien in Europa, denen von rechts außen, von den Nationalpopulisten, in der Zuwanderungsfrage das Wasser abgegraben wird. Die ÖVP findet keine überzeugende, auch den Realitäten entsprechende, Lösung für das Migrationsproblem. Mikl-Leitner selbst hat auch keine Patentlösung. Sie hat das als Innenministerin 2015 erlebt, als sie mit einigem Recht von Menschenrechtsorganisationen wegen der Zustände im Lager Traiskirchen kritisiert wurde. Heute noch ist ihr die damalige Ratlosigkeit anzumerken: "Seit zehn Jahren hat sich so gut wie nichts geändert." Österreich werde für die Versäumnisse der EU geprügelt.

Niederösterreich sei, historisch gesehen, immer auch ein "aufsässiges Land" gewesen, behauptet eine kommende Ausstellung im Haus der Geschichte Niederösterreich. Wie weit wird die Aufsässigkeit bei der Wahl gehen? Dass Mikl-Leitner sich einen Koalitionspartner wird suchen müssen, ist naheliegend. Fragen dazu blockt sie ab. Dass ihr die FPÖ nicht liegt, ist evident. Ein Sturz unter die 40 Prozent würde sehr viel infrage stellen. Bleibt beim letzten Telefonat mit ihr in diesen Tagen nur die gute alte niederösterreichische Niemals-aufgeben-Parole: "Wir marschieren!" ( Hans Rauscher, 23.1.2023)