Viele Patienten kommen wegen Kleinigkeiten ins Spital, weiß Minister Rauch. Doch um das zu ändern, fehlt ihm der Einfluss. Die Macht liegt bei jenen in den "Schützengräben".
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In den Spitälern riecht es nach Krise. Ambulanzen sind überlastet, Stationen gesperrt, an allen Ecken und Enden fehlt Personal. Operationen werden verschoben, manche Ärzte sehen sogar die Notversorgung in Gefahr. Gesundheitsminister Johannes Rauch warnt: "Geht es so weiter, fährt das System an die Wand."

Was läuft da falsch? Die Ursachen sind so vielfältig wie die Symptome. Doch wer tiefer schürft, gelangt zu einem Grundübel, das vor dem grünen Minister schon Experten ausführlich identifiziert haben. Zu viele Hände seien im heimischen Gesundheitssystem im Spiel, sagt Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien: "Und keine Hand will der anderen Geld geben, wenn es benötigt wird."

Lauter Einzelkämpfer

Um den Befund zu verstehen, empfiehlt der Fachmann als Erstes einen Blick in den sogenannten niedergelassenen Bereich. Viele Behandlungen ließen sich zu den Ärztinnen und Ärzten außerhalb der Spitäler verlagern, wies Czypionka mit Kollegen in einer Studie nach, bis hin zu ambulant durchführbaren Operationen. Doch das Angebot sei nicht mit den Bedürfnissen, speziell der vielen chronisch Kranken, gewachsen: Statt aus One-Stop-Shops mit multiprofessionellem Angebot und weit gefassten Öffnungszeiten besteht die Ordinationslandschaft zu 84 Prozent immer noch aus Einzelpraxen.

Wer bei mitunter wochenlangen Wartezeiten zwischen Labor, Röntgen oder Ultraschall hin- und hergeschickt wird, wechselt gerne dorthin, wo es alles unter einem Dach gibt: ins Spital. Dort aber kommt die Behandlung der öffentlichen Hand viel teurer. Eine Operation etwa verschlingt gleich deutlich mehr Geld, wenn der Patient dafür übernachtet.

Im Spital wird es richtig teuer

Es habe sich eingebürgert, dass Leute wegen Kleinigkeiten ins Spital fahren, obwohl ihre Behandlung in den niedergelassenen Bereich gehöre, diagnostiziert Minister Rauch – ein Grund für überlastete Ambulanzen und explodierende Kosten: Von 2012 bis 2021 sind die Ausgaben für die öffentlichen Spitäler um 41 Prozent auf 16,5 Milliarden Euro gestiegen.

Der Gesundheit dient die Krankenhauslastigkeit ebenso wenig. Czypionka macht das am Beispiel der Diabetiker fest. Gute Vorsorge könne dazu führen, dass Zuckerkranke ein Nierenschaden erst mit 80 statt 60 Jahren ereilt. Dafür brauche es aber Primärversorgungszentren wie etwa in Schweden, die ihre eingeschriebenen Patientinnen und Patienten nicht aus den Augen verlieren.

Im Österreich der verstreuten Einzelordinationen bleibe die präventive Kontrolle hingegen oft auf der Strecke, sagt der Experte. Wieder landeten Menschen überflüssigerweise in den Spitälern, wieder seien Überlastung und horrende Kosten die Folge: "Wenn Diabetiker erst einmal so krank sind, dass sie Medikamente, Dialysen, Operationen brauchen und vielleicht noch aus dem Berufsleben herausfallen, wird es richtig teuer."

Der Grünen-Politiker will Pflegeberufe aufwerten, Hierarchien flacher gestalten – und kritisiert Widerstände gegen notwendige Veränderungen aus der Ärztekammer. Was sich sonst noch ändern muss? Eine Expertenrunde diskutiert.
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Ein Minister ohne Macht

Auch der Preis für das Wohlbefinden lässt sich beziffern. Im Alter von 65 Jahren können Männer und Frauen in Österreich im Schnitt noch mit 8,2 gesunden Jahren rechnen – im EU-Vergleich schlechtes Mittelmaß. Die Deutschen erwarten elf Jahre, die Spanier sechs Monate mehr, die Schweden gar 16 Jahre.

In der Theorie klingt die Lösung einfach. Statt immer mehr Geld in die Spitäler zu pumpen, investiert der Staat in Primärversorgungszentren und ähnliche Einrichtungen und dirigiert die Patienten, wie etwa in der Schweiz der Fall, per Zuteilungssystem um. Doch nicht so in Österreich: Da ist die berüchtigte Kompetenzverteilung im Weg.

Der Gesundheitsminister steht zwar in der öffentlichen Auslage, besitzt aber kein Durchgriffsrecht. Er kann für einen Plan werben, Förderungen ausschütten, über politische Umwege Druck aufbauen – diktieren kann er nichts. Die Macht liegt in anderen Händen.

Kein Mitspracherecht für Krankenkassen

Für die niedergelassenen Ärzte, auch extramuraler Bereich genannt, zeichnen die Krankenkassen, federführend die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), verantwortlich. Ihr Spielraum ist aber nicht nur deshalb begrenzt, weil sie mit den von Arbeitnehmern und -gebern berappten Sozialversicherungsbeiträgen auskommen müssen. Die Kassen finanzieren auch zu 42 Prozent die Spitäler mit, den Rest deckt Steuergeld. Mitspracherecht erhalten die Sozialversicherungsvertreter zu ihrem Ärger dafür aber nicht. Im "intramuralen" Bereich haben die Bundesländer das Sagen.

Die Krankenkassen können also nicht anordnen, dass Geld von den Spitälern in den niedergelassenen Bereich umgeschichtet wird – und das System sieht auch keine Anreize vor, dafür zu kämpfen. Denn ihr Zuschuss für die Krankenhäuser hängt von den eigenen Beitragseinnahmen ab, nicht aber von der dortigen Kostenentwicklung. Lassen sich mehr Menschen außerhalb der Spitäler behandeln, beschert das den Kassen höhere Ausgaben. Betriebswirtschaftlich ist es also besser, die Patienten bleiben, wo sie sind.

Auf der anderen Seite beklagen Ländervertreter, dass die Kassen beim Ausbau alternativer Angebote zu wenig weiterbrächten. Doch auf Steuergeld verzichten wollten sie für diesen Zweck bis dato nicht. Die Alterung der Gesellschaft und die immer teurere Spitzenmedizin machten in jedem Fall höhere Ausgaben nötig, so das Argument. Das lässt sich kaum bestreiten – doch Kritiker, etwa aus der Sozialversicherung, fügen an: Die Landespolitiker unternähmen viel zu wenig, um für einen effizienteren Betrieb zu sorgen.

Geschichte des Bremsens

Was die Angelegenheit weiter verkompliziert: Selbst wenn das Geld da ist, braucht die Krankenkasse für jedes neue Primärversorgungszentrum die Zustimmung der Ärztekammer. Solch ein Vorhaben deckt sich aber nicht zwangsläufig mit den Interessen der vertretenen Klientel. Manch niedergelassener Mediziner bleibt lieber Einzelkämpfer – und wünscht sich keine neue Konkurrenz.

Man solle sich nicht täuschen lassen, wenn Kammerpräsident Johannes Steinhart diese Woche die Eröffnung eines neuen Primärversorgungszentrums in Wien-Döbling beehrt hat, argwöhnt eine Stimme aus der ÖGK. In dieser Frage blicke die Standesvertretung auf eine lange Geschichte des Bremsens zurück.

Viele Mitspieler mit Vetorecht

"In kaum einem anderen Land mischen so viele mit Vetorecht ausgestattete Player mit wie in Österreich", konstatiert Experte Czypionka. Dass Reformen dringend nötig seien, bestätige in der Theorie jeder – "doch geht es darum, auf Einfluss zu verzichten, scheitert es". Er wolle das den Akteuren aber gar nicht persönlich vorwerfen, fügt der Forscher an: "So sind einfach die Spielregeln."

Ändern ließen sich diese beim Finanzausgleich, bei dem sich Bund, Länder und Gemeinden für fünf Jahre die Verteilung der Steuereinnahmen ausschnapsen. Schon vor dem Verhandlungsstart kommende Woche haben die Akteure Positionen abgesteckt. Die Länder schlagen vor, die Spitalsambulanzen gemeinsam mit den Primärversorgungszentren und Co in einer eigenen Säule zu steuern. Bei den Verhandlungspartnern ertönt aber Skepsis: Da werde alles noch komplizierter.

Familientherapie für Kontrahenten

Doch der Gegenvorschlag klingt eher noch weniger realistisch. Dass die Sozialversicherung, wie von Dachverbandschef Peter Lehner urgiert, die Führung der Spitäler übernimmt, werden die machtbewussten Länder kaum schlucken. Ohnehin dürfen die Kassenvertreter beim Finanzausgleich quasi nur gnadenhalber mitreden, Stimmrecht haben sie keines – und nebenbei hält sie die Umsetzung der türkis-blauen Kassenfusion auf Trab.

Und der Minister? Der geht von einem schonungslosen Befund aus: "Die Kontrahenten sitzen im eigenen Finanzierungsschützengraben und sind nicht bereit, für die andere Seite auch nur einen Cent lockerzumachen." Doch die große Bundesstaatsreform, die Kompetenzen sinnvoll ordne, werde er nicht mehr erleben, sagt Rauch. Also wolle er die Steuergeldverteilung beim Finanzausgleich als Hebel nutzen, um mehr Abstimmung und Reformbereitschaft durchzusetzen. Wie genau? Da lässt sich Rauch nicht in die Karten blicken.

Er sei sich im Klaren, dass die Gefahr des Scheiterns groß sei, fügt der Ressortchef an. Zu oft habe er in der Zielsteuerungskonferenz, in der Bund, Länder und Sozialversicherung um eine gemeinsame Planung ringen, erlebt, wie schon kleinere Fragen in "ewiges Gezerre" ausgeartet seien: "Ich bin dabei so etwas wie der Familientherapeut." Gerald John, 21.1.2023)