Gerd Müller, ehemals deutscher Entwicklungsminister unter Angela Merkel, ist seit 2021 als Unido-Chef mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Globalen Südens befasst.

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Die Unido ist jene UN-Organisation mit Sitz in Wien, die sich mit der Wirtschaftsentwicklung armer Länder befasst. Als Chef steht ihr seit dem Jahr 2021 erstmals jemand vor, der nicht aus einem Entwicklungsstaat stammt: der Deutsche Gerd Müller, zuvor Minister unter Angela Merkel. Im STANDARD-Interview legt Müller dar, wie Europa große wirtschaftliche Chancen vor allem in Afrika ungenutzt verstreichen lässt.

STANDARD: Herr Müller, wir stehen am Beginn einer Ära, in der sich reiche Staaten abschotten. Mit Billionenhilfen schützen sie ihre Unternehmen; häufig ist von einem neuen Protektionismus die Rede. Wie wirkt sich das auf arme Länder aus?

Müller: Ich sehe hier eine große Gefahr. Die Industrieländer betreiben Protektionismus und stützen nicht nur mit Billionen, sondern gar Trillionen ihre Wirtschaft – allein Italien etwa erhält aus dem Pandemiefonds der EU 200 Milliarden Euro. Staaten wie Äthiopien, Ägypten und andere afrikanische Länder hingegen erhalten keinen einzigen Dollar zur Unterstützung ihrer Wirtschaft, die durch Pandemie und Energiekrise schwer belastet ist. Dennoch sollen sie am Weltmarkt konkurrenzfähig sein. Dagegen kommen sie selbstverständlich nicht an.

STANDARD: Entwicklungsländer bekommen kein Geld aus den Fördertöpfen des Westens?

Müller: Nichts, keinerlei Support oder Hilfe aus den Sonderprogrammen. Dabei sind sie an keiner der drei planetaren Krisen schuld, die die Hilfsmaßnahmen überhaupt notwendig gemacht haben: weder am Ukraine-Krieg noch an der Pandemie noch am Klimawandel, bei dem die reichen G20-Staaten für 80 Prozent der Weltemissionen verantwortlich sind.

STANDARD: Können sich diese Länder das Geld für Hilfsmaßnahmen nicht ausborgen, wie es der Westen auch tut?

Müller: Im Gegensatz zu Europa haben viele Entwicklungs- und Schwellenländer keinen einfachen Zugang zum internationalen Finanzmarkt. Der Sudan beispielsweise und zwanzig andere afrikanische Länder sind fast vollständig von ihm abgeschnitten. Und wenn, dann zahlen sie zehn, fünfzehn Prozent Zinsen. Europas Länder hingegen haben nicht nur guten Zugang und können sich daher in schwierigen Zeiten verschulden – sie können dies sogar äußerst billig, immerhin befanden wir uns bis vor einem Jahr in einer Nullzinsphase. Da herrscht enormes Ungleichgewicht. Dabei braucht es in Entwicklung- und Schwellenländern dringend Investitionen: für Wohnraum, Infrastruktur, Schulen, Krankenhäuser, erneuerbare Energien. Was dort investiert wird, wirkt sich auch in Europa massiv aus.

STANDARD: Wie?

Müller: Die Entwicklungsländer benötigen für ihre wirtschaftliche Entwicklung Energie. Derzeit sind auf dem afrikanischen Kontinent dutzende extrem klimaschädliche Kohlekraftwerke in Planung. Wenn sie ans Netz gehen, wird ein Vielfaches an zusätzlichen CO2-Emissionen in die Luft gehen – viel mehr, als wir in Europa mit all unseren Mühen je einsparen können. Die Energiefrage in Afrika entscheidet auch über das Klima in Europa. Deshalb braucht es Technologiepartnerschaften mit Schwellen- und Entwicklungsländern: für Investitionen in Erneuerbare, für Wasserstoff und CO2-Speicher-Technologien. Das wäre eine Win-win-Situation für Afrika und zugleich die europäische Wirtschaft.

STANDARD: Afrika ist ein sonniger Kontinent. Da müsste doch enormes Potenzial für erneuerbaren Sonnenstrom schlummern.

Müller: Ich habe Solarkraftwerke in Ägypten besichtigt, die das Kilowatt Sonnenstrom für nur wenige Cent herstellen. Bei solchen Preisen lässt sich grüner Wasserstoff wettbewerbsfähig auf dem Weltmarkt produzieren. Das können wir in Österreich und Deutschland so nicht, uns fehlen schlicht die Voraussetzungen.

STANDARD: Warum stehen EU-Firmen nicht längst Schlange, um solche Chancen zu nutzen?

Müller: Es stehen Firmen Schlange in afrikanischen Ländern und in der arabischen Welt – aber nicht europäische, sondern welche aus China, Japan und Südkorea. Dort hat man erkannt, dass Afrikas Länder jene der Sonne, der erneuerbaren Energie und des Wasserstoffs sind. Ich kann nur dazu auffordern, dass auch Europa diese Chance wahrnimmt. Aber es muss bei Investitionen auch Wertschöpfung in diesen Ländern bleiben, nicht nur Ressourcen ausgebeutet werden.

STANDARD: Haben europäische Firmen weniger Weitblick als asiatische?

Müller: Es fehlt an Langfristdenken. Viele schauen vor allem auf die etablierten Märkte. Dabei haben Afrikas Länder großes Wachstumspotenzial, eine junge und dynamische Bevölkerung. Es liegt auf der Hand, dass es viel nachholende Entwicklung geben wird. Noch ein Beispiel: Es wird prognostiziert, dass die Afrikaner in zwanzig Jahren 300 Millionen Autos kaufen werden. Mit Ruanda und Ghana haben gerade die ersten Staaten mit einer eigenen Automobilproduktion begonnen. Als Partner sind Korea, China und Japan an Bord. Auch wenn ich mich natürlich über Investitionen aus diesen Ländern freue, würde ich gerne auch mehr europäische Hersteller dort sehen. Dort entstehen gewaltige Märkte.

STANDARD: Wenn die Chancen so groß sind, müssten die Firmen doch von selbst kommen. Warum geschieht das nicht in ausreichendem Maß, sodass Sie die fehlende Hilfe aus dem Westen beklagen?

Müller: Es gibt zwar Investitionsbereitschaft, aber nicht ausreichend. Denn jeder Investor setzt politische und wirtschaftliche Stabilität voraus, Kampf gegen Korruption, die sogenannte Good Governance. Das gibt es noch nicht ausreichend. Als Unido fordern wir das von unseren Partnerländern auch ein und unterstützen sie dabei.

STANDARD: Sie sind seit vielen Jahren entwicklungspolitisch tätig. Geht es den Menschen im Globalen Süden besser als beispielsweise vor 20 Jahren?

Müller: Man muss je nach Land und Bereich differenzieren. Beim Thema Hunger etwa gab es gewaltige Fortschritte. Im Jahr 1990 lebten laut UN-Definition noch 30 Prozent der Weltbevölkerung in Hunger und Armut; heute sind es zehn. Äthiopien beispielsweise hat es erstmals seit hundert Jahren geschafft, zum Selbstversorger bei Weizen zu werden, ja ihn sogar zu exportieren. Das gelang durch Investitionen in moderne und zukunftsfähige Landwirtschaft.

STANDARD: Ist Äthiopien die Ausnahme oder die Regel?

Müller: Man kann nicht pauschalisieren. Es gibt Aufsteigerländer und Problemregionen. Immerhin aber liegen fünf der schnellstwachsenden Länder der Welt in Afrika, das zeigt das Potenzial; und viele asiatische Länder haben ebenfalls große Entwicklungssprünge gemacht. (Joseph Gepp, 25.1.2023)