Unter den Staaten in der Welt, in denen rechtspopulistische bis autoritäre Männer die Politik dominieren, gibt es zwei Gruppen: In der einen wird der liberale Rechtsstaat zunehmend ausgehebelt und durch eine gelenkte Demokratie oder echte Diktatur ersetzt. Diese Gruppe reicht von Ungarn und Serbien bis zur Türkei und Russland. In anderen Ländern verhindert dies die Opposition mithilfe einer starken Zivilgesellschaft, kann die autoritären Kräfte aber nicht besiegen. Das führt zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft und politischen Dauerturbulenzen. Das Muster gilt etwa für die USA und Brasilien – und offensichtlich auch für Israel.

Israels Premierminister Netanjahu stößt mit seiner extremen Koalition auf Widerstand aus der Bevölkerung.
Foto: AP/ Tsafrir Abayov

Bedrohliche Koalition

Wer das Land seit der letzten Wahl in eine bedrohliche Richtung abgleiten sieht, hat sicher nicht unrecht. Premier Benjamin Netanjahu verfolgt nach seinem knappen Sieg nur ein Ziel: die zahlreichen Gerichtsverfahren gegen ihn wegen Korruption und Amtsmissbrauchs niederzuschlagen. Dazu ist er eine Koalition mit einem rechtsnationalistischen Bündnis und zwei ultrareligiösen Parteien eingegangen, die Netanjahu mit ihren Rufen nach Annexion der Palästinensergebiete und theokratischer Gesetzgebung von seinem bisher doch recht pragmatischen Kurs abzudrängen drohen.

Mit seinem provokanten Besuch auf dem Tempelberg hat Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir gleich bewiesen, dass er sich um Netanjahus Sorge um die Beziehungen zum großen Verbündeten USA nicht schert. Genauso gefährlich für diese Säule der Sicherheit Israels sind die Attacken der Ultra-Orthodoxie auf liberale Strömungen des Judentums, die in den USA weit verbreitet sind.

Entmachtung der Kontrollinstanz

Einig sind sich die Koalitionsparteien in einem Vorhaben: Sie wollen den Obersten Gerichtshof entmachten, der in einem Staat ohne Verfassung die einzige effektive Kontrollinstanz darstellt. Doch dieser schlug vergangene Woche zurück, als er Netanjahu aufforderte, den mehrfach verurteilten Gesundheits- und Innenminister Arje Deri zu feuern. Dass der Premier am Sonntag dies tatsächlich tat, mag ein Zeichen sein, dass er den Boden des Rechtsstaates doch nicht ganz verlassen will, für dessen Verteidigung am Vorabend erneut Zehntausende in Tel Aviv demonstriert hatten. Womöglich aber dient die Entlassung nur dazu, Zeit für die Regierung zu gewinnen, die geplante Entmachtung des Höchstgerichts durchzuziehen. Danach könnte, so die Überlegung, Deri ja zurückkehren.

Leicht wird Netanjahu ein solches Manöver angesichts des Widerstands im Inneren und der Kritik aus den USA allerdings nicht fallen. Die Regierung mag extremistisch sein, stark ist sie nicht.

Sorgen um demokratisches Fundament

In gesellschaftlichen und religiösen Fragen wird Netanjahu die schlimmsten Exzesse zu vermeiden wissen, um Israels Förderer im Ausland nicht vor den Kopf zu stoßen. Das macht auch eine radikale Änderung des Status quo in den besetzten Gebieten unwahrscheinlich. Beschleunigen dürfte sich sehr wohl die schleichende Annexion durch den Ausbau jüdischer Siedlungen und Repressalien für die Palästinenser.

Das ist ein Szenario, das nur wenige der Anti-Regierungs-Demonstranten empört. Sie sorgen sich um das demokratische Fundament der eigenen Gesellschaft und sind bereit, es zu verteidigen. Das Leid der palästinensischen Bevölkerung ist im Bewusstsein der israelischen Mittelschicht hingegen kaum präsent. Das ist auch eine Erklärung für Netanjahus politische Überlebenskunst. (Eric Frey, 22.1.2023)