Ein eisiger Wind lässt die Grünen-Wahlkampfwimpel vor dem Bahnhof Wien Mitte im dritten Bezirk flattern. Die Sonne geht gerade unter. 4,3 Grad zeigt die Temperaturanzeige an, als Helga Krismer kurz nach halb fünf eintrifft. Die Spitzenkandidatin der Grünen für die Landtagswahl am 29. Jänner in Niederösterreich trägt einen knielangen, hellgrünen Steppmantel.

Bester Laune begrüßt sie Wiener Parteikolleginnen und -kollegen, allen voran Landesparteichef Peter Kraus. Dann schnappt sich die 50-Jährige mehrere grüne Stofftaschen, die "Bio macht schön" verheißen, und beginnt, sie an Vorbeigehende zu verteilen.

Helga Krismer (Grüne) verteilt Taschen in Wien-Mitte.
Foto: Regine Hendrich

Die niederösterreichischen Grünen machen immer wieder Verteilaktionen an Wiener Bahnhöfen, um dort Pendlerinnen und Pendler abzupassen. Mobilität ist eines ihrer Kernthemen in diesem Wahlkampf. Und natürlich erneuerbare Energien und der Klimawandel.

Helga Krismer hat Glück: Gleich die erste Dame, die sie anspricht, ist Niederösterreicherin. Außerdem sei sie noch nicht sicher, vielleicht werde sie Grün wählen. Sie sprechen unter anderem über soziale Fragen. Am Ende des Gesprächs sagt Krismer: "Jetzt hat es sich schon ausgezahlt, dass ich hergekommen bin." Denn vielleicht hat die Frau mit der Kurzhaarfrisur sich soeben für die Grünen entschieden.

Viertes Mandat als Ziel

Bei der letzten Wahl 2018 holten die Grünen 6,4 Prozent der Stimmen. Umfragen sagen ihnen nun ähnliche Werte voraus. Damit blieben sie noch ein Stück weit entfernt von einem vierten Mandat. Ein Sitz in der Landesregierung ist ungewiss. Ob es sich diesmal ausgeht? Als Ziel wagt Krismer es nicht zu formulieren.

In der gleichen Lage wie die Grünen sind die Neos in Niederösterreich. Werden die Umfragen wahr, ändert sich ihre Situation nach der Wahl nicht. Die Neos wollen sich deshalb als Opposition präsentieren, die der "Regierung auf die Finger schaut".

Neos-Spitzenkandidatin Indra Collini (Zweite von links) verteilt Flyer am Perchtoldsdorfer Markt.
Foto: Helena Manhartsberger

Das nimmt ihnen nicht jeder ohne Weiteres ab, wie sich bei einer Wahlkampfveranstaltung an einem Wochentag nachmittags in Perchtoldsdorf im Wiener Speckgürtel zeigt. "Sind ja sowieso alle korrupt. Es wird sich nichts ändern", sagt da ein Mann mit braunem Stoffhut und vollgepacktem Rucksack vor dem Wahlkampfzelt der Pinken.

"Ich tu mir mit der Behauptung schwer, dass alle korrupt sind", kontert die Neos-Spitzenkandidatin Indra Collini, die vorhin aus einem strahlend pinken Opel der Partei ausgestiegen ist – quer parkend über die Einfahrt zum Perchtoldsdorfer Marktplatz. Parkplätze sind hier Mangelware.

Mann sieht nur Sumpf

"Schauen S’ nach Wien. Dort haben wir einen jederzeit abrufbaren Regierungsmonitor eingerichtet", fügt Collini an. Beim Thema Korruptionsbekämpfung fühlt sich die 52-Jährige wohl. Die Neos werben traditionell für mehr Transparenz. Überzeugen konnte sie diesen Herrn aber nicht. Die Politik sei ein Sumpf ohne Ende – er verabschiedet sich.

"Man sieht die Verzweiflung der Menschen gegenüber der Politik", sagt Collini in Richtung der ihr folgenden Journalistinnen. Dieses Misstrauen will die gebürtige Vorarlbergerin aber in der Gemeinde, rund 15 Kilometer südwestlich von Wien gelegen, für sich nutzen. Denn neben Jugend und Bildung steht "saubere Politik" ganz oben auf dem Wahlprogramm, Plakaten und Flyern.

Das versucht Collini jetzt einem Herrn, der gerade vor dem "Weinrathaus" am Marktplatz ein Achterl Weiß trinkt, verständlich zu machen. Es brauche mehr Menschen mit Vertrauen und mehr Transparenz. Der Weingenuss weicht einem politischen Gespräch. "Politik muss sich auch untereinander die Hand reichen", meint der Herr. "Darum will ich mich bemühen, aber dazu brauchen wir mehr Mandate", hofft Collini auf Unterstützung. Konkret soll es ein viertes Mandat werden, so das Wahlziel.

Collini studierte BWL und war im Marketingbereich tätig, nun tritt sie zum zweiten Mal als Spitzenkandidatin für die Landes-Neos an – genau wie Krismer für die Grünen. Die gebürtige Tirolerin hat mehr Politerfahrung als Collini: Sie könnte auch als Tierärztin ihr Geld verdienen, sitzt aber seit 20 Jahren im Landtag und ist seit 13 Jahren Vizebürgermeisterin von Baden.

Ein überraschender Gast

An jenem Wahlkampfabend in Wien Mitte stößt Krismer plötzlich einen Freudenschrei aus: "Welche Überraschung!", ruft sie einem Mann in schwarzem Wollmantel zu: Vizekanzler Werner Kogler. "Wir haben es ja nicht weit", sagt er und schnappt sich sieben, acht Flyer. Fotografinnen und Fotografen schießen Bilder, danach wünschen sich Passanten Selfies mit Kogler.

Der Bundesgrünen-Chef findet mit drei Baugerüstarbeitern ins Gespräch – keine Niederösterreicher, aber das scheint ihn nicht zu kümmern. Auch Krismer hat nun keine gute Trefferquote, was potenzielle Wählerinnen und Wähler, also Menschen aus Niederösterreich, anbelangt. Einige Passantinnen und Passanten machen um den Grünen-Pulk auch lieber schnellen Schrittes einen Bogen. Andere wollen eine Stofftasche haben, in denen ein Salatgewürz und ein Flyer liegen.

Kein gutes Pflaster

Zurück zum Perchtoldsdorfer Marktplatz. Während Standlbesitzer versuchen, ihr Obst, Gemüse und Honig zu verkaufen, will Collini nun ihre Wahlziele vermarkten. Nicht umsonst hat sich das Neos-Team Ort und Zeit hier ausgesucht. "Ich will das jetzt mit Ihnen nicht diskutieren, ich will mein G’schäft machen", lehnt ein Standlbesitzer aber den Smalltalk der Neos-Kandidatin ab. Der Markt bleibt für Collini kein gutes Pflaster. Eine andere Verkäuferin gibt zu verstehen, dass politische Veranstaltungen hier unerwünscht seien.

Die Perchtoldsdorfer sind den Neos gegenüber aber überdurchschnittlich positiv eingestellt, das zeigte die letzte Landtagswahl. Damals konnte die Partei dort mit elf Prozent eines ihrer besten Ergebnisse erzielen. Für die Neos ist das Wiener Umland das Hoffnungsgebiet für die Landtagswahl – die meisten Stimmen kamen 2018 aus dem Speckgürtel. Viele Wahlkampfevents der Neos konzentrieren sich deshalb rund um Wien.

In Wien Mitte ist Werner Kogler inzwischen wieder weitergezogen. Drei bis vier Flyer hat er verteilt. Helga Krismer findet nun doch auch wieder eine Niederösterreicherin für ein Gespräch. "Danke, das werde ich mir mitnehmen", sagt sie der Sonderschullehrerin aus Pfaffstätten, die in Wien arbeitet und sich Sorgen um die Zukunft der Sonderschulen macht. Wenig später verabschiedet sich Krismers Pressesprecher nach einer guten Stunde in der Kälte – und erinnert seine Chefin, noch einen Happen zu essen und sich bald aufzuwärmen. Danach geht es für sie noch weiter zu einer Abendveranstaltung.

Der Tag hat um sechs Uhr früh mit Flyerverteilen in Baden begonnen, danach gab Krismer in Melk eine Pressekonferenz, dann besuchte sie im Mostviertel einen Bauern. Nun verabschiedet sie sich gegen 17.45 Uhr. Der Wind weht weiter. Die Temperatur ist etwas gesunken.

Bildung und Jugend

Für die Neos in Perchtoldsdorf ist der Nachmittag vor allem bei den Jüngeren erfolgreich. Drei Jugendliche, die gerade vom Gymnasium Richtung nach Hause gehen, kann Collini in ein Gespräch verwickeln. Die Schülerinnen berichteten vom Platzmangel in der Schule im Ort und davon, dass sie in Containern untergebracht sind. "Schlimmer Zustand", gibt Collini zu verstehen. Mit Bildungsthemen will man bei den Jungen punkten. So waren es auch gerade viele Schülerinnen, die am Neos-Stand vorbeigekommen sind. Wenn auch meist nur, um pinke Zuckerwatte mitzunehmen, die vor dem Parteizelt zubereitet wurde. (Gudrun Springer, Max Stepan, 23.1.2023)