Franco Zifirellis Inszenierung von La Bohème feiert den Sechziger.

Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Wien – Im November feiert Franco Zeffirellis Inszenierung von La Bohème den Sechziger. In ihrem szenischen Verismo taucht man ein in die Lebensverhältnisse des Pariser Künstlerprekariats Mitte des 19. Jahrhunderts, atmosphärisch gefesselt wie von einem Netflix-Kostümfilm. Man lernt: Allgemeine Energiekostenzuschüsse fürs Heizen gab es nicht. Die kargen Lebensmittel mussten in Körben verstaut werden, die mit einem Seilzugsystem vor Mäusen in Sicherheit gebracht wurden. Und in der Zeitrechnung vor Immobiliengott Benko waren großstädtische Penthousewohnungen nur mangelhaft isoliert und Kategorie D.

Zwischen Gentleman und Biedermann

In der Nachfolge von Superstar Anna Netrebko und Latin Lover Vittorio Grigolo froren am Donnerstagabend Rachel Willis-Sørensen und Benjamin Bernheim im vorvorgestrigen Pariser Winter. Wenn Willis-Sørensen bei ihrer Sterbeszene als Mimì auch nicht ganz an die Pianissimowunderwerke Netrebkos herankam: Die Amerikanerin erfreute mit einem fülligen, sinnlichen, zu Größe und strahlendem Glanz fähigem Sopran ungemein.

Benjamin Bernheims Rodolfo war darstellerisch im Graubereich zwischen Gentleman und Biedermann zu verorten; sein ebenmäßiger, schnörkelloser 50er-Jahre-Tenor kam im Duett mit Kumpel Marcello (vital: Boris Pinkhasovich) im vierten Bild am vorteilhaftesten zur Geltung. Als Musetta verstand es Anna Bondarenko, ihren durchschlagskräftigen Sopran mit ausreichend Nougat zu umhüllen. Das Staatsopernorchester (Leitung: Eun Sun Kim) betörte mit Streicheleinheiten der Streicher. Mittlere Begeisterung. (sten, 21.1.2023)