Essenzielle Seidl-Figur: Maria Hofstätter in der grandiosen Rolle einer Tramperin im Film "Hundstage".

Foto: Filmarchiv Austria

Gruppensex gilt vielen Menschen als erstrebenswert, hat aber auch ein zwiespältiges Image. Denn je größer die Menge, desto anspruchsvoller die Aufgabe, in der Gruppe ein "Lieblingsarscherl" zu finden. Schnell ist man beim "Resteficken", und die erhoffte Entgrenzung endet in Enttäuschung. In Ulrich Seidls Film Hundstage (2000) sieht man die Schauspielerin Claudia Martini sich nach einer Orgie vor einem Spind anziehen. Sie wirkt dabei, als könnte sie ebenso gut gerade eine Schicht lang im Supermarkt Regale befüllt haben. Sex ist eben genauso wie die Religion nicht das ganz andere der Gesellschaft, sondern einfach ein Teil davon.

Im filmischen Werk des Regisseurs Ulrich Seidl nimmt Hundstage eine bedeutsame Position ein. Davor hatte er Dokumentarfilme gemacht, die zwar auch schon deutliche Züge von Inszenierung aufwiesen. Nun aber zog er (gemeinsam mit Veronika Franz, mit der er das Drehbuch schrieb) zum ersten Mal eine erzählerische Bilanz aus seinen Beobachtungen. Sie fiel nicht besonders positiv aus, und das nicht nur aufgrund der Hitzewelle, die den Menschen im Film den Schweiß aus den Poren treibt.

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Hundstage schildert vor allem eine Lebensform, den Speckgürtel am Rande von Wien, zwischen Shopping-Malls und privaten Pools. Wenn man all die Haustüren, Garagentore, Hecken, Sofas und Gartenzwerge zusammenzählt, die man nebenbei zu sehen bekommt, hat man wieder einen Dokumentarfilm. Aber der größere Befund ist eben doch auch eine Konstruktion: Das Leben in diesem Teil von Österreich, am Ende des 20. Jahrhunderts, ist ein Trauerspiel, geprägt von toxischer Männlichkeit (die damals noch nicht so hieß), von Melancholie und von den Werbejingles, die Maria Hofstätter in der markanten Rolle einer Tramperin zu ihrem Mantra macht.

Sex, Sodom und Schönheit

In diesen Wochen kann man sich im Filmarchiv Austria das Gesamtwerk von Ulrich Seidl, der im November letzten Jahres 70 Jahre alt wurde, noch einmal anschauen. Die Arbeiten des Wieners sorgten in den letzten 40 Jahren für Empörung, Ekel, Jubel, Bewunderung und Kritik – wie zuletzt erst die Diskussion um die Arbeitsbedingungen beim Dreh des Films Sparta. Dieser wird, vor seinem verzögerten Kinostart, an zwei Abenden gezeigt: flankiert von einer Podiumsdiskussion über die umstrittene "Methode Ulrich Seidl".

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Seidls Filme erzählen sehr häufig von Sex und seinen Sublimierungen, man kann darin beinahe das zentrale Motiv erkennen. Es zeigt sich damit als Ausdruck einer immer noch stark vom Katholizismus und seinen Ritualen geprägten Gesellschaft, die sich mit neuen Freiheiten (der Frauensextourismus in Paradies: Liebe; Osteuropa als Ressource für Sex und Pflege in Import Export) und alten Ansprüchen auseinandersetzen muss: "Die philippinische Frau ist treu, nicht anspruchsvoll und vor allem nicht emanzipiert", heißt es in Die letzten Männer, einem der Fernsehfilme von Seidl, die in der Retrospektive zu sehen sind.

Schon in dem Hochschulfilm Einsvierzig kann man dabei den Kernbefund für Seidls Ästhetik (und Ethik) erkennen. Er wählt als Protagonisten einen Mann, der in der Logik des Kinos ein "Freak" ist, unternimmt dann aber eine Menge, um ihn quasi normal zu machen ("a Arbeitskolleg wie jeder andere"). Mit seinen Stilisierungen hält er Karli Wallner aber auch genau in dieser Balance zwischen einer Figur, die verstohlene Blicke auf sich zieht (weil es ja Anstandsgrenzen der Blicklust gibt), und einem Menschen wie du und ich (dem man also unverwunden in die Augen schauen kann).

Zum Entrüsten und Abhauen

Der große internationale Erfolg von Seidl hat sicher damit zu tun, dass in der Außenperspektive seine zumindest in Ansätzen komplexen Strategien unverhohlen exotisch gesehen werden: Er zeigt ein Österreich, über das man sich entrüsten und abhauen kann, ein merkwürdiges Land. Ein konsequent vormodernes Österreich, das im Barock hängen geblieben ist. Seidls ästhetisches Grundprinzip läuft sozusagen auf eine Art Hobbykeller-Barock hinaus.

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Schönheit und Vergänglichkeit sind unverbrüchlich aneinandergekettet, der hinfällige Leib enthält keine Seele, sondern nur Geplapper – auch insofern ist die Tramperin aus Hundstage eine essenzielle Seidl-Figur. Ihr entsprechen die betenden Menschen in Jesus, du weißt, die sich mit Phrasen an ihren Erlöser wenden, auch von der Kamera eingefügt in eine gottesfürchtige Architektur, die alles zum Himmel streben lässt, nur nicht die Subjekte.

Hundstage und Tierische Liebe (1995), der Spielfilm und der anstößige Dokumentarfilm über Österreich als neues Sodom, das ist das Filmpaar, das im Zentrum eines Werks steht, das insgesamt ein Kippbild ergibt. Den Schönheitsideologien des kommerziellen Kinos stellt es Figuren entgegen, die oft so erbärmlich sind, dass sie den Regisseur in eine gottgleiche Position rücken: Ulrich Seidl, der große Erbarmer. (Bert Rebhandl, 24.1.2023)