Mit einer turbofrisierten Neubearbeitung ihres alten Songs "Summertime Sadness" wurde Lana Del Rey zum viralen Hit auf Social Media.

Foto: Universal

Die US-Sängerin Lana Del Rey brettert 2012 auf ihrem Debüt Born to Die in ihrem Song Summertime Sadness mit ihrem "bösen Baby" auf dem Beifahrersitz irgendeinen kalifornischen Highway to Hell hinunter. Sie steht dabei laut Eigenbekunden unter Feuer wie unter Strom. Obendrein raunt sie, dass es ihr auch gar nichts ausmache, wenn am Ende der Straße der Tod lauern würde. Das ist im Bannkreis von James Dean oder Grace Kelly standesgemäß für schwermütigen Romantikpop aus Hollywood. Allerdings sind die ursprüngliche Musik und der somnambule Gesang dazu eher im Duktus eines schleppenden Trauermarsches gehalten.

Das war früher. In einer aktuellen Version aus dem Jahr 2022 quietscht sich Lana Del Rey in einer mehr als doppelt so schnellen Turboversion von Summertime Sadness allerdings mit hochfrisierter, nach einer Überdosis Helium klingender Stimme wie Alvin und die Chipmunks, die Schlümpfe oder Dschi Dsche-i Wischer Dschunior selig mit gefühlt 160 Beats pro Minute durch ihren alten Hadern. Man muss mit dem Auto nicht den Weg des James Dean gehen. Vor dem tödlichen Crash kann auch ein Herzinfarkt nach einem Doppelliter Espresso dazwischenkommen.

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Summertime Sadness ging 2022 dank der jungen ungeduldigen Leute auf Tiktok und ihrer altersgemäßen Lust auf Schnelligkeit und Abwechslung bei niedriger Aufmerksamkeitsspanne und gleichzeitig dringendem Bedürfnis, einfach die Hände in die Luft zu werfen und sich um nichts zu kümmern, viral. Für ein tolles Selfie-Video total crazy zu tanzen, dafür reicht, weiß Gott, auch eine halbe statt vier Minuten. Unter Suchbegriffen wie "Sped up" oder "Speed Songs" kann man im Netz mittlerweile mehrstündige und zigmillionenfach geklickte, tausende Titel umfassende Playlists mit alten Songs finden. Allesamt sind sie in den Teilchenbeschleuniger gefallen, um am anderen Ende als knallbunte Quietschenten-Remixe herauszukommen. Tempo machen, wir haben ja nicht ewig Zeit!

Netflix-Tanz als viraler Hit

Zu den Liedern, mit denen die jungen Leute ihre Videos unterlegen, zählen bekannte Titel aus den Nuller- und Zehnerjahren wie Sexy Back von Justin Timberlake, Gangnam Style von Psy, On The Floor von Jennifer Lopez, My Humps von den Black Eyed Peas oder Say It Right von Nelly Furtado. Sie gehören ebenso zu den großen Tiktok-Hits wie Bloody Mary von Lady Gaga. Der ursprünglich aus dem Jahr 2011 stammende Song wurde zur Sensation auf Social Media, weil er in der neuen Trashversion mit Jenny Ortegas verhaltensauffälliger Gruftie-Tanzszene aus dem Netflix-Teenie-Hit Wednesday kombiniert wurde: "I'll dance, dance, dance / With my hands, hands, hands / Above my head, head, head / Like Jesus said."

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Die anonym produzierten und auf die App gestellten Remixe kommen der Musikindustrie nicht ungelegen. Ohne PR-Aufwand und irgendwelche Kosten werden so alte, längst ad acta gelegte Lieder für ein neues Publikum attraktiv und erklimmen die Charts. Tiktok verzeichnet unter #SpedUpSounds mittlerweile gut neun Milliarden Zugriffe. Demi Lovatos mit Luftballongas behandelter Song Cool for the Summer findet aktuell in gut zweieinhalb Millionen Videos eine neue Heimat.

PsychoMonxx

Mittlerweile hat das Genre auch seine Wurzeln entdeckt. Sie liegen im Happy Hardcore und Ballermann-Techno der frühen 1990er-Jahre. Marusha und ihre Fliegerschokolade-Deutung von Somewhere over the Rainbow oder Mark 'Oh, die Party Animals und Paul Elstak lassen einem noch heute allein bei deren Namenserwähnung das Blut in den Adern gefrieren. 2002 begründeten die Norweger Thomas S. Nilsen und Steffen Ojala Soderholm unter dem Projektnamen Nightcore und dem Album Energized im Rahmen einer Schularbeit im Musikunterricht schließlich unter dem Eindruck von Scooters Coverversion des Peter-Maffay-Titels Nessaja aus dessen Musical Tabaluga den hochgepitchten Nachfolgestil des, ja, eben, Nightcore.

Jaob

Die Einflüsse dieses schlechten Geschmack bejahenden und selbst für Laienproduzenten niederschwellig zugänglichen und kaum von Copyright-Klagen gestörten Subgenres elektronischer Musik rocken heute noch, und dominant wie, nie das Netz. Nette Kinderliedmelodien, fröhliche La-Le-Lu-Euphorie und musikalische Unbedarftheit werden 2023 auch wieder verstärkt vom etwas älteren Partyvolk begrüßt. Man kann diese Musik heute im Zweifel ja auch "ironisch hören". Warum das so gut bei den Leuten ankommt, liegt auch im allgegenwärtigen Algorithmus begründet, der unser Leben lenkt: In kurzer Zeit kann man bei hohem Tempo natürlich mehr Information und schnelle Triebbefriedigung unterbringen als in einem Andachtsjodler. Die Langsamkeit während der Pandemie ist vorüber, hier kommt schnell, schnell die neue Pest. (Christian Schachinger, 24.1.2023)