Diese Blumen werden bald entfernt. Dann wird es wieder neue geben.

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Die Exekutive hat Stellung bezogen.

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Schweigend legen die Menschen Blumen, Kerzen und Kuscheltiere nieder. Sie gedenken der Toten im ukrainischen Dnipro, unter denen auch Kinder waren. An sie alle soll erinnert werden an einem Denkmal mitten im Moskauer Zentrum, in einem kleinen Park in der Nähe des Kiewer Bahnhofs. Es ist ein stiller Protest. Ganz und gar unpolitisch und gerade deshalb so politisch.

VIDEO: Mit dem Niederlegen von Blumen gedenken Menschen in Moskau der Opfer eines russischen Angriffes auf das ukrainische Dnipro.
DER STANDARD

Sie empfänden einfach nur Trauer, sagen sie. Zum Für und Wider des Kriegs, der in Russland nach wie vor "Spezialoperation" genannt werden muss, mag sich niemand äußern. Bei dem Angriff auf Dnipro, der Großstadt in der zentralukrainischen Region Dnipropetrowsk, wurden am 14. Jänner mindestens 45 Menschen getötet und etwa 80 verletzt. Noch immer werden ukrainischen Angaben zufolge 20 Bewohner vermisst. Der Raketenbeschuss war Teil der heftigsten russischen Angriffswelle auf die Ukraine seit Jahresbeginn.

Mehr als 21.000 Verhaftungen

Öffentliche Antikriegsaktionen sind in Russland angesichts massiver Repressionen sehr selten geworden. Unmittelbar nach Beginn der Invasion gab es in vielen russischen Städten Demonstrationen. Die Bürgerrechtsorganisation OVD-Info spricht von mehr als 21.000 Verhaftungen und mindestens 370 Anklagen in Strafverfahren wegen Antikriegsaussagen und -reden. Mehr als 200.000 Internetadressen seien gesperrt worden.

Doch seit Monaten gibt es kaum noch größere Proteste gegen den Einmarsch ins Nachbarland, den Präsident Wladimir Putin vor fast elf Monaten angeordnet hat. Um so mutiger sind die Menschen, die mitten in Moskau der Opfer von Dnipro gedenken. Junge Menschen und auch die Älteren, sie alle bringen Blumen mit.

Denkmal einer Kämpferin

Gewidmet ist das Denkmal, an dem sie ihre Blumen niederlegen, der ukrainische Dichterin Lessja Ukrajinka. Sorgfältig wird es von der Stadtverwaltung gepflegt, auch noch nach Beginn der "Spezialoperation". Lessja Ukrajinka wurde 1871 unter dem Namen Larissa Petriwna Kosatsch geboren. Sie war Kämpferin und Feministin. In ihren Gedichten spielt die Sehnsucht nach Freiheit eine große Rolle. Gegen die Hoffnung hoffe ich! heißt ihr wohl bekanntestes Werk. Nicht zufällig haben die unbekannten Initiatoren der Protestaktion gerade dieses Denkmal gewählt.

Ganz zu Beginn haben die Trauernden auch ein Schwarz-Weiß-Foto des zerstörten Wohnhauses aufgestellt. Doch das hat die Moskauer Stadtreinigung schnell abgeräumt. Seitdem herrscht ein kleiner Machtkampf zwischen den Behörden und den Trauernden: Immer wieder werden die Blumen entfernt, doch Tag für Tag, Nacht für Nacht kommen die Menschen und bringen neue.

Festnahmen beim Denkmal

Vor dem Denkmal steht ein Streifenwagen, zwei Polizisten überwachen das Geschehen, nehmen manchmal die Personalien der Trauernden auf, die Blumen bringen. Es habe auch Festnahmen gegeben, teilt OVD-Info mit. Einem der Festgenommenen, der die ganze Nacht auf der Polizeiwache festgehalten wurde, werde nun "geringfügiges Rowdytum" vorgeworfen.

Das Gedenken am Moskauer Denkmal, der stille Protest anstelle von Demonstrationen und Antikriegsparolen, verunsichert wohl die Behörden. Das oppositionelle Onlinemedium Meduza erzählt die Geschichte eines Teilnehmers, der am Denkmal Fotos machte. Ein Polizist sei auf ihn zugekommen und habe gesagt: "Ich weiß, dass Sie das Recht haben, Fotos zu machen, ich selbst verstehe nicht, warum Sie das nicht dürfen, aber die Behörden haben gesagt, dass Sie das nicht dürfen, also löschen Sie das Foto."

Proteste auch in anderen Städten

Nicht nur in Moskau, auch in anderen russischen Städten tauchten Blumensträuße und Kuscheltiere im Gedenken an die Opfer von Dnipro auf. In Krasnodar brachten laut Meduza Menschen Blumen, Kerzen und Kinderspielzeug an das Denkmal des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko. In Sankt Petersburg legten die Einwohner mit Kerzen das Wort "Dnepr" aus. Und auch in Jekaterinburg gedachten die Menschen der Toten von Dnipro.

In Moskau geht unterdessen der stille Protest weiter, nun schon in der zweiten Woche. Neue Blumen werden gebracht. Und der Streifenwagen ist auch noch da. (Jo Angerer aus Moskau, 24.1.2023)