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Bis zu einem gewissen Grad können Selbstzweifel gute Antreiber sein. Werden sie allerdings zu groß, belasten sie unser Nervensystem.

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Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Umfeld merkt, dass man eigentlich eine Betrügerin oder ein Betrüger ist. Bisher hat man sich ganz gut durchgeschummelt, aber irgendwann … irgendwann fliegt auf, dass man eigentlich nichts kann. Viele kennen diese Gedanken, haben Angst, im Beruf zu versagen, und befürchten, mit ihrem scheinbaren Nichtwissen aufzufliegen.

Statistisch gesehen ist das Impostor-Syndrom ähnlich weit verbreitet wie die Depression: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass jede und jeder einmal im Leben von enormen Selbstzweifeln im beruflichen Umfeld betroffen ist. "15 Prozent leiden intensiv darunter", berichtet Sonja Rieder. Als Psychotherapeutin und Business-Coach begleitet, berät, coacht und therapiert sie leistungsorientierte Menschen. Das Hochstapler-Syndrom ist dabei kein individuelles, sondern viel eher ein gesellschaftliches Problem, sagt sie.

STANDARD: Wie viele Zweifel sind denn normal?

Rieder: In manchen Phasen des Lebens sind Zweifel ganz normal, zum Beispiel im ersten Job, wenn Dinge verlangt werden, die man einfach noch nicht wissen kann. Aber es gibt Hinweise, dass diese Gedanken irgendwann nicht mehr gesund sind, etwa wenn man sich über Komplimente nicht mehr oder nur sehr kurz freuen kann und die Freude dann schnell von schlechtem Gewissen abgelöst wird, weil man es ja eigentlich nicht verdient hätte. Oder wenn man Erfolge nicht mehr registrieren oder sie genießen kann. Manche kommen dann in einen Strudel, sodass sie immer mehr und mehr und noch mehr leisten wollen. Die Hauptgefahr beim Hochstapler-Syndrom ist, irgendwann im Burnout zu landen.

STANDARD: "Syndrom" deutet in der Medizin oft auf eine Krankheit hin. Ist das Impostor-Syndrom ein Krankheitsbild?

Rieder: Nein. Man kann mittels Fragebögen das Impostor-Syndrom zwar diagnostizieren, aber in den meisten Fällen hat das nichts mit einem klinischen Krankheitsbild zu tun. Wenn jemand diese Selbstzweifel sehr stark hat, kann es womöglich eine Kombination mit einer Angststörung oder einer Depression sein. Im Grunde ist es eine innere Befindlichkeit, nichts Objektives. In den allermeisten Fällen sind davon sehr erfolgreiche, ehrgeizige Menschen mit hohen Leistungsstandards betroffen. Aber innen drin fühlen sie sich, als würden sie vorgeben, etwas zu sein, was sie gar nicht sind.

STANDARD: Wer ist besonders häufig betroffen? Man liest immer wieder, dass Frauen häufiger stark an sich und ihren Fähigkeiten zweifeln.

Rieder: Davon ist man lange Zeit ausgegangen, wohl auch, weil Pauline Clance, die Vorreiterin auf dem Gebiet, ihre Forschung mit Frauen begonnen hat. Gesellschaftlich würde das Sinn machen, und in der Praxis beobachte ich auch, dass vor allem Frauen an sich zweifeln. Aber so genau weiß man das nicht. Es ist schwer messbar, weil es keine einheitliche Definition für das Impostor-Syndrom gibt. Manche zweifeln hin und wieder ein bisschen, andere haben einen großen Leidensdruck. Was ich außerdem beobachte: Es kommen besonders viele Wissenschafterinnen und Wissenschafter zu mir. Die Beschäftigungsverhältnisse in dieser Branche sind prekär, der Publikationsdruck ist enorm.

STANDARD: Es hat also etwas mit dem Umfeld zu tun, meinen Sie?

Rieder: Genau. Man darf das nicht nur aus individueller, psychologischer Sicht sehen. Die Wurzel liegt tiefer, das Impostor-Syndrom hat viel mit der Leistungsgesellschaft zu tun. Wenn nie etwas gut genug ist, ist es nur logisch, dass viele zweifeln. Es ist in allen möglichen Berufsgruppen weitverbreitet. Ärztinnen und Anwälte sind genauso davon betroffen wie Pfleger, Studierende, Schauspielerinnen oder Manager. Überall, wo es um Leistung geht, gibt es das Impostor-Syndrom.

Betroffene haben auch häufig große Schwierigkeiten im Umgang mit Fehlern. Es darf keiner passieren, und wenn doch, darf es bloß niemand merken. Kein Wunder, bei uns gibt es keine Fehlerkultur. Es heißt zwar immer wieder, dass wir hierzulande eine andere, offenere Fehlerkultur bräuchten, aber im österreichischen Arbeitsumfeld werden Fehler nach wie vor als ein großes Problem gesehen.

Das Hochstapler-Phänomen hat mehr mit der Leistungsgesellschaft als mit einem selbst zu tun, sagt Sonja Rieder.
Foto: Lars Ternes

STANDARD: Gibt es dennoch individuelle Faktoren, die das Impostor-Syndrom begünstigen?

Rieder: Viele von den Betroffenen sind narzisstisch strukturiert. Die meisten kennen Narzissmus nur in der Form, dass Menschen nach außen hin eingebildet und egoistisch auftreten, aber es gibt auch die gegenteilige Form davon. Im Kern geht es bei Narzissmus nämlich um einen Mangel an Selbstwertgefühl, und der wird unterschiedlich kompensiert, entweder in die Großartigkeit oder in enormen Selbstzweifeln.

Außerdem hat es viel mit Perfektionismus zu tun. Ich merke das in der Praxis, viele meiner Klientinnen und Klienten haben sehr hohe Ansprüche. Das ist nur logisch, Ehrgeiz und Perfektionismus können zu Beginn einer Karriere helfen. Wenn sie nicht zu stark sind, sind diese Gefühle gute Antreiber. Deshalb haben das Impostor-Syndrom auch so viele erfolgreiche Leute. Nur manchmal kippt das irgendwann. Wer über Jahre viel Energie in den Beruf steckt, hat irgendwann keine mehr und kann das Leistungsniveau nicht mehr aufrechterhalten. Eine Berufslaufbahn ist ein Marathon, kein Sprint.

Ich beobachte auch einen Ausbildungsperfektionismus, wie ich das gerne nenne. Damit meine ich, dass vor allem Frauen oft das Gefühl haben, noch eine fünfte Ausbildung auf einem Gebiet machen zu müssen, bevor sie ein Projekt dann wirklich angehen. Viele Betroffene lehnen auch Beförderungen ab, weil sie ohnehin schon das Gefühl haben, sie können nicht so viel wie die anderen, und glauben, wenn sie jetzt auch noch aufsteigen, wird das noch schlimmer. Sie bleiben deshalb oft unter ihren Möglichkeiten.

STANDARD: Frauen hören in dem Zusammenhang dann oft, sie müssten doch nur ein bisserl selbstbewusster auftreten – ein guter Ratschlag?

Rieder: Man kann selbstbewusstes Auftreten mit Körpersprachtrainings üben. Wobei ich unbedingt betonen möchte, dass das nicht am Kern des Problems ansetzt. Das Bilden von Netzwerken und das Durchblicken von Machtstrukturen ist mindestens genauso wichtig wie die Leistung.

STANDARD: Was können Betroffene tun, um aus dem Mangelgefühl herauszukommen?

Rieder: Gedankenmuster überprüfen und mit der Wirklichkeit abgleichen. Oft neigen Betroffene gedanklich zu Verallgemeinerungen wie "Nie gelingt mir was" oder "Immer geht was schief". Das sollte man, am besten gemeinsam mit jemand Zweitem, hinterfragen: Wirklich nie? Wirklich immer? Und ein anderer Gedanke kann erleichternd wirken: Mit Annahmen wie "Eigentlich kann ich nichts, habe aber diesen Job" unterstellt man der Umgebung eine gewisse Blödheit. Es kann helfen, die Menschen, die einen angestellt haben, genauer zu betrachten. Die haben sich bei der Einstellung schon was gedacht.

Generell rate ich Menschen, die zu enormen Selbstzweifeln neigen, immer, sich beruflich zu spezialisieren. In Aufgabengebieten, die begrenzt sind und dafür mehr in die Tiefe gehen, kann man schneller Sicherheit aufbauen. Ein Beispiel: Eine Rechtsanwältin, die alle möglichen rechtlichen Themen betreut, muss sich ständig überall neu einlesen und bleibt überall maximal mittelgut. Wenn sie sich aber auf Konkursrecht spezialisiert, hat sie das Gebiet irgendwann durchdrungen. Das gibt Selbstsicherheit, sie fühlt sich kompetenter. Außerdem sollte man unbedingt chronische Überlastung vermeiden. Impostor-Snydrom ist mit starken Ängsten verbunden, und Ängste sind Ausdruck einer Anspannung des Nervensystems. Diese Anspannung wiederum wird gesteigert durch Stress, vor allem chronischen. Das macht anfällig für Angstsyndrome, Depression und Burnout.

STANDARD: Und was kann man unmittelbar tun, wenn etwa vor einer wichtigen Präsentation die Zweifel quälen?

Rieder: Aus der Traumatherapie gibt es eine gute Technik. Man sagt sich Gedanken wie "Du kannst nichts" in einer übertrieben schrillen Comic-Stimme vor. Wenn uns innerlich dann plötzlich ein kleiner Donald Duck schlechtreden will, ist das so absurd, dass uns das aus der Gedankenschleife reißt. Auch Techniken aus Achtsamkeitstraditionen können hilfreich sein, etwa die Gedankenbeobachtung. Man bewertet die eigenen Gedanken dabei nicht, sondern nimmt sie einfach nur wahr, lässt sie zu und dann wieder weiterziehen. Manchen hilft dieses Innehalten. Gedanken sind dann wie das Wetter: Ein Nebel kommt und geht. Außerdem rate ich dazu, Erfolgstagebücher zu schreiben und Erfolge schwarz auf weiß festzuhalten. Was man selbst aufgeschrieben hat, kann man sich später nicht wieder wegreden. (Magdalena Pötsch, 29.1.2023)