Zwei Jahre, vier Onlinebefragungswellen und tausende ausgewertete Fragebögen später liegt nun der Endbericht der sogenannten Tiroler Covid-19-Kinderstudie vor. Diesem zufolge ist heute jedes dritte Kind im Alter von drei bis 13 Jahren traumatisch besonders gefährdet. Sie leiden etwa unter Konzentrationsschwierigkeiten oder auch psychosomatischen Beschwerden. Diese Hochrisikogruppe, zu der insbesondere Kinder aus "finanziell und emotional belasteten Familien" zählten, gelte es nun zu stabilisieren, um "manifesten psychischen Symptomen und Krankheiten" vorzubeugen, unterstreicht die Studienleiterin Kathrin Sevecke im Gespräch mit dem STANDARD. Die Zustände seien schließlich noch immer "alles andere als paradiesisch", so die Direktorin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Innsbruck und Hall weiter. Die Pandemie werde "abgelöst von anderen Krisen: Teuerung, Krieg, Ungewissheit".

Pandemischer Anstoß

"Corona hat einen Stein ins Rollen gebracht", sagt Sevecke. "Die Pandemie hat uns die psychische Belastung von Kindern erst so richtig vor Augen geführt." Die psychische Gesundheit der untersuchten Kinder aus Tirol und Südtirol habe sich zudem im Erhebungszeitraum deutlich verschlechtert. Der erste Teil der auch vom Land Tirol unterstützten Onlinebefragung wurde im Lockdown im März 2020 durchgeführt. Damals sei die Mehrheit der Kinder noch im Normalbereich verortet gewesen. Im zweiten Teil hatten bereits 16 Prozent klinisch relevante Krankheitszeichen aufgewiesen. Im Zuge der dritten Erhebungswelle stellte sich dann heraus, dass sich der Anteil der Kinder, die vom Normalbereich in den klinischen Bereich gerutscht sind, auf 23 Prozent vervierfacht hatte.

Gerade auch den Jüngsten Gehör schenken

Traumatische Erfahrungen hätten aber auch zu "persönlichen Entwicklungsprozessen" geführt, ergänzt Sevecke die Erkenntnisse aus der vierten Erhebungswelle, die am 1. Dezember 2022 startete. Im Fachjargon spreche man von "posttraumatischem Wachstum". Darunter fielen etwa gestärkter Zusammenhalt in der Familie und der Erwerb von neuen Fähigkeiten oder neuer Selbstständigkeit. "Davor steht allerdings die Belastung", gibt Sevecke zu bedenken.

Kinder im Alter von drei bis 13 Jahren wurden im Zuge der zweijährigen Studie untersucht. Ihre psychische Verfassung hat sich im Laufe der Zeit deutlich verschlechtert.
Foto: Anette Christina Götz/imago images

Insgesamt 4.480 Fragebögen sammelten die Verantwortlichen. 846 davon wurden von den Kindern selbst ausgefüllt, der Rest von Eltern oder Lehrkräften der Elementarstufe. "Auch jüngere Kinder können Aussagen über ihre Befindlichkeit treffen, dem muss Gehör geschenkt werden", leitet Sevecke aus den Befragungen ab. Es sei ihr ein Anliegen gewesen, besonders die Jüngsten – Kinder ab drei Jahren – in die Studie miteinzubeziehen.

Politik muss nachschärfen – stationär und ambulant

Viele Kinder seien heute in einem psychisch "schlechten Zustand". "Das können wir nicht ignorieren", betont Sevecke. "Es gibt unheimlich viel zu tun." Ihr Ruf gilt der Politik. In Österreich würde der Bedarf an stationären Plätzen für psychisch kranke Kinder und Jugendliche aktuell nur zur Hälfte erfüllt. Mehr als 90 Patientinnen und Patienten tummelten sich auf der Warteliste für einen stationären Platz im Landeskrankenhaus in Hall, die Wartezeit betrage aktuell bis zu drei Monate. "So lange wartet niemand auf eine Blindarm-OP oder eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt", schüttelt Sevecke den Kopf.

Andererseits gelte es aber auch, bei der ambulanten Betreuung nachzuschärfen. Hier brauche es "nicht nur mehr krankenkassenfinanzierte Psychotherapieplätze", sondern auch "mehr Ressourcen für ambulante Angebote wie Tageskliniken, Jugendhilfe- und Essstörungs-WGs".

Kathrin Sevecke, Direktorin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Innsbruck und Hall, leitete die Studie.
Foto: TARGET GROUP A. Springer/Tirol-Kliniken

Zusätzlich müsse auf "Entstigmatisierung, Aufklärung und Prävention" gesetzt werden. In Tirol soll im Zuge eines Folgeprojekts nun das Schulfach "Mental Health" (zu Deutsch: Psychische Gesundheit, Anm.) durchgehend ab der vierten Klasse Volksschule eingeführt werden, berichtet Sevecke von aktuellen Plänen. Um an all diesen Schrauben zu drehen und zu verhindern, dass "sich jeder am anderen abputzt", brauche es allerdings eine "ressortübergreifende, koordinierende Stelle".

In Tirol wird aufgestockt

"Psychische Erkrankungen können jede und jeden von uns aus unterschiedlichen Gründen treffen. Vor allem Kinder und Jugendliche sollen sich jedoch in Krisenzeiten auf eine breitgefächerte Unterstützung in Tirol verlassen können, die ihnen auf dem Weg zur psychischen Gesundheit zur Seite steht", hält Gesundheitslandesrätin Cornelia Hagele (ÖVP) auf Anfrage des STANDARD fest. Mit einem "flächendeckenden Netz aus vielfältigen Beratungs- und Hilfsangeboten und präventiven Maßnahmen in allen Bezirken" wolle man "psychischen Belastungen frühzeitig entgegenwirken und Kinder und Jugendliche nachhaltig in ihrer psychosozialen Entwicklung unterstützen", so die Politikerin weiter. Seit April seien 650 zusätzliche Behandlungsplätze in Tirol geschaffen worden. Aber: "Uns ist bewusst, dass das Angebot laufend verbessert und ausgebaut werden muss."

ÖVP-Landesrätin Cornelia Hagele will das psychosoziale Angebot in Tirol ausbauen.
Foto: Johann Groder/EXPA/APA

In Tirol stehen derzeit 37 stationäre Betten und sechs tagesklinische Plätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall zur Verfügung, wie es auf Anfrage des STANDARD heißt. Ab April würden die tagesklinischen Plätze auf acht aufgestockt. In Innsbruck gebe es aktuell fünf tagesklinische Plätze. Das Büro der Landesrätin berichtet weiters von zehn Plätzen in der psychiatrischen Wohngemeinschaft Space von Pro Mente Tirol. Zusätzlich böten vier Kassenfachärztinnen und -ärzte, eine niedergelassene Ärztin sowie sechs angestellte Ärztinnen und Ärzte und eine Wohnsitzärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie weitere Betreuungsplätze für Betroffene.

Heimbesuche als weitere Säule

"Ich bin der Meinung, es ist veraltet, lediglich in den Krankenhäusern aufzustocken – im Sinne von einfach ein Stockwerk draufzusetzen", findet Sevecke, die im Übrigen auch als Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) agiert. Vielmehr müsse man "neue Möglichkeiten etablieren". Als Beispiel eines solchen zeitgemäßen Konzepts führt Sevecke sogenannte Hometreatments, also "aufsuchende Behandlungen" ins Treffen, die stationären Aufenthalt ersetzen oder ergänzen sollen. In Wien würden solche Hometreatments bereits angeboten, in der Steiermark starte ein Programm in Kürze.

Die Anwendungsbereiche seien vielfältig. Bei den Kleinsten könne etwa eine videobasierte Intervention angewandt werden, zieht Sevecke den Bogen zur Covid-19-Kinderstudie. Schließlich habe sich dort auch gezeigt, dass die Eltern-Kind-Beziehung oft "Ursache für die Störungsanfälligkeit von Kindern" ist. Bei der videobasierten Intervention würden im Zeitraum von sechs Monaten alltägliche Interaktionen zwischen Mutter oder Vater und Kind – wie Spielen, Essen oder Aufräumen – gefilmt und bei Hausbesuchen im Abstand von zwei bis drei Wochen durch geschultes Personal gemeinsam analysiert. Am Landeskrankenhaus in Hall würde dazu aktuell geforscht.

Hometreatments sind auch eines der Schwerpunktthemen des 9. Kinder- und Jugenpsychiatriekongresses, der von 27. bis 28. Jänner in Innsbruck über die Bühne geht. Dort würden auch die Ergebnisse der Tiroler Covid-19-Kinderstudie vorgestellt und Ableitungen daraus diskutiert, lässt Sevecke wissen. 350 Personen hätten sich angemeldet, die Veranstaltung würde hybrid abgehalten. Sie freue sich auf eine "persönliche Interaktion", sagt Sevecke. Von einer "Rückkehr zur Normalität" könne allerdings noch keine Rede sein. "Was die Arbeitsbelastung und die Herausforderungen angeht, würde ich eher von einem Dauermarathon sprechen." (Maria Retter, 24.2.2023)