Geschichten über gleichgeschlechtliche Paare wirken sich nicht nachteilig auf Kinder aus, urteilte der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg.

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Erzählungen von Scheidungsfamilien, Migration, Mobbing und gleichgeschlechtlichen Paaren, eingebettet in eine Sammlung von traditionellen Märchen: Mit "Amber Heart" wollte die mittlerweile verstorbene litauische Aktivistin und Autorin Neringa Macatė ein Kinderbuch auf den Markt bringen, das modernen Lebensrealitäten einen Platz einräumt.

Doch kurz nach Veröffentlichung des Werks, das vom litauischen Kulturministerium gefördert wurde, gab es im Jahr 2013 Ärger: Litauische Abgeordnete beschwerten sich darüber, dass das Buch Kindern die Idee einflöße, dass "Hochzeiten zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren ein willkommenes Phänomen seien".

Vor der litauischen "Aufsichtsbehörde für ethischen Journalismus" hatte diese Beschwerde Erfolg: Die Beamten kamen zum Schluss, dass die Märchen nicht mit dem Jugendschutzgesetz vereinbar seien. Sie würden "zu einem anderen Konzept von Ehe und Familie als dem in der Verfassung verankerten" ermutigen und hätten "negative Auswirkung auf Minderjährige". Das Buch solle deshalb mit dem Warnhinweis versehen werden, dass es für Kinder unter 14 Jahren nicht geeignet sei.

Klage erst in Straßburg erfolgreich

Die Autorin Macatė zog daraufhin bis vor den litauischen Obersten Gerichtshof, blieb jedoch erfolglos. In letzter Instanz wandte sie sich 2019 an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, der ihr nun recht gegeben hat (EGMR 23.1.2023, 61435/19, Macatė v. Lithuania).

Aus Sicht des EGMR hat die Vorgangsweise Litauens dem Recht auf Meinungsfreiheit widersprochen. Das Argument der Regierung, sie habe versucht, Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen, wiesen die Höchstrichterinnen und Höchstrichter zurück. Es sei nicht einzusehen, warum die Geschichte einer Prinzessin und der Tochter eines Schuhmachers, die nach ihrer Hochzeit in den Armen des anderen einschlafen, verpönt sein sollte.

Die Erwähnung von Homosexualität und die öffentliche Debatte über den sozialen Status sexueller Minderheiten wirke sich nicht nachteilig auf Kinder aus. Durch die Vorgangsweise hätten die Behörden bestimmte Arten von Beziehungen und Familien gegenüber anderen bevorzugt. Damit hätten sie zur anhaltenden Stigmatisierung beigetragen, was "unvereinbar mit den Vorstellungen von Gleichheit, Pluralismus und Toleranz" sei.

Erlebt hat Autorin Macatė ihren Sieg nicht mehr. Nach ihrem Tod im Jahr 2020 setzte ihre Mutter den Prozess fort. Litauen muss ihr neben den Prozesskosten nun 12.000 Euro Entschädigung bezahlen.

Ähnliche Situation in Ungarn

Einen ähnlichen Fall gab es zuletzt in Ungarn. Das queere Kinderbuch "Märchenland für alle" war 2020 erschienen und sorgte für heftige Kontroversen. Der rechtsnationale Ministerpräsident Viktor Orbán hatte das Buch als Aufhänger für eine Kampagne gegen homosexuelle Menschen verwendet. Auf Basis eines umstrittene Gesetzes hat Ungarn dann 2021 den Verkauf von Kinderbüchern eingeschränkt. Buchgeschäften ist demnach verboten, bestimmte Bücher im Umkreis von Schulen nicht mehr anzubieten. Die EU-Kommission hat das Gesetz scharf kritisiert. (Jakob Pflügl, 24.1.2023)