Man möchte meinen, dass der Staatspräsident und die Regierung in der Ukraine genug damit zu tun hätten, den Angriff Russlands militärisch und politisch abzuwehren. Man möchte meinen, in solchen Zeiten würden alle Kräfte an einem Strang ziehen, um das Überleben der Nation zu ermöglichen. Und doch ist es augenscheinlich nicht so: Im Zuge der Aufdeckung eines sich ständig ausweitenden Korruptionsskandals wurden am Dienstag in Kiew etliche hochrangige ukrainische Beamte entlassen, darunter die Gouverneure mehrerer ukrainischer Regionen.

Foto: Ukrainian Presidential Press Office via AP

Es handelte sich diesbezüglich um eine der bisher umfangreichsten Maßnahmen der Regierung von Wolodymyr Selenskyj – nicht nur seit Beginn der russischen Invasion vor genau elf Monaten, sondern auch seit seinem Amtsantritt als Staatspräsident im Mai 2019.

Zwar wurden vorerst offiziell keine Einzelheiten zu den Gründen der Entlassungen angeführt; doch es gilt als erwiesen, dass gewisse Verantwortliche in den Reihen der Militärführung darin involviert gewesen seien, dass für die Versorgung der eigenen Truppen wissentlich vielfach überhöhte Preise bezahlt wurden. Den Berichten zufolge habe der in den Sog der Ermittlungen geratene stellvertretende Verteidigungsminister Wjatscheslaw Schapowalow selbst "um seine Entlassung gebeten", berichtete am Dienstag unter anderem die "New York Times".

"Business as usual"

Für Selenskyj gilt also inmitten des Krieges "business as usual". Er war ja nicht zuletzt wegen seines Versprechens gewählt und vom Volk ins Amt des Präsidenten berufen worden, um die grassierende Korruption im Land – die jahrelang als strukturelles Problem der Nation galt – zu bekämpfen. Zwar gab es bisher keine Anzeichen dafür, dass in diesem Aspekt der Korruptionsaffären in höchsten Kreisen westliche Hilfsgelder für die Kriegsführung veruntreut worden wären; dennoch war Selenskyj darum bemüht, den westlichen Verbündeten zu versichern, dass Kiew nach wie vor keinerlei Toleranz gegenüber Korruption und Bestechung dulde.

"Infolge des Krieges ist so etwas wie ein neuer Vertrag zwischen der Zivilgesellschaft, Journalisten und der Regierung entstanden", zitierte die "New York Times" am Dienstag Witali Schabunin vom Anti-Korruption-Aktionszentrum, einer in Kiew ansässige NGO. "Wir werden euch nicht mehr so kritisieren wie vor dem Krieg – aber eure Reaktion auf jeden Skandal und jede Ineffizienz muss so hart wie möglich ausfallen." Im Verteidigungsministerium sei diese Vereinbarung nun aber offenbar gebrochen worden.

Für die ukrainische Staatsführung ist dieser Korruptionsfall äußerst unangenehm, läuft er doch den Bemühungen zuwider, das Land so schnell wie möglich als Vollmitglied in die Europäische Union zu führen. Selenskyjs fast schon mantraartig vorgetragene Parole "Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU" wird in Brüssel und etlichen der 27 nationalen Regierungen nicht zuletzt deshalb mit Skepsis zur Kenntnis genommen. Und so hieß es auch am Dienstag aus Brüssel: Man begrüße die bereits getroffenen Maßnahmen, sagte eine Kommissionssprecherin; es müssten aber weitere Fortschritte erzielt werden, und es müsse Garantien für Geldgeber geben, dass Mittel sinnvoll eingesetzt würden.

Intensives Werben um EU-Mitgliedschaft

Zur Erinnerung: Im vergangenen Frühjahr hatte sich die den russischen Angriffen ausgesetzte Ukraine sehr vehement um eine rasche Mitgliedschaft in der EU – und auch in der Nato – bemüht. Dort stieß sie damit auf Sympathie, Anteilnahme und Wohlwollen, aber eigentlich nicht auf mehr.

Es war Emmanuel Macron – als Frankreichs Präsident einer der Big Player in der EU, ohne den nichts geht –, der im vergangenen Mai sagte, dass Kiew "aller Wahrscheinlichkeit nach noch mehrere Jahrzehnte" von einer vollen EU-Mitgliedschaft entfernt sei. Auch andere EU-Partner äußerten ihre Skepsis: Die Ukraine habe wegen der jahrelang grassierenden, teils systemimmanenten Korruption in Politik, Justiz und Wirtschaft keine echte Chance auf Mitgliedschaft. Und da sprach man noch nicht einmal von anderen erschwerenden Faktoren – wie etwa über die Unsicherheit über den Ausgang des Krieges und über die bisher noch völlig ungeklärten Kosten für den Wiederaufbau des Landes.

"Zwei Schritte vor, einer zurück"

Umso mehr Elan legte Selenskyj in der Folge an den Tag, um das politische Ziel der "europäischen Zukunft" seines Landes zu erreichen. Erst Ende Dezember würdigte das US-Politikmagazin "Politico" dessen Bemühungen in dieser Richtung – wenngleich deren Erfolg vorerst noch bescheiden sei: "Zwei Schritte vor und einer zurück", lautete die Bewertung.

Zwar habe Selenskyj im Jahr 2022 – trotz des Krieges – ein erstaunliches Reformtempo angeschlagen, etwa durch die Installierung eines neuen Generalstaatsanwaltes; auch sei es nach langen Verzögerungen endlich zu überfälligen Verurteilungen gekommen; und nicht zuletzt sei es als Erfolg zu werten, dass das Parlament das berüchtigte, für Korruption bekanntermaßen sehr empfängliche Kiewer Verwaltungsgericht aufgelöst hat – doch dem stehe nach wie vor die Sorge um die ausständige Reform des Obersten Verfassungsgerichtshofes entgegen.

2022 kam Bewegung in die Sache

Zu den Errungenschaften der kriegsgebeutelten Regierung im Kampf gegen die Korruption zählte im Sommer 2022 die Ernennung von Oleksandr Klymenko zum Chefankläger für Korruptionsbekämpfung. Erst unter seiner Ägide wurden mehrere angehaltene Ermittlungen wieder freigegeben, etliche aktive oder ehemalige hohe Beamte mussten vor Gericht, manche landeten in Untersuchungshaft, einige wurden zu Geldstrafen verurteilt.

Doch der alte Machtapparat war und ist offenbar noch immer gut vernetzt und unterwandert teils erfolgreich mehrere Reformbemühungen, etwa auch jene in Bezug auf den Obersten Gerichtshof, wo um den Besetzungsmodus heftig und ohne Ergebnis gestritten wird.

Es verwundert daher nicht, dass viele reformfreudige Kräfte in der Ukraine darauf hoffen, dass das westliche Ausland weiter Druck auf die Ukraine ausübt – auch wenn das Land wegen des Krieges wohl vordergründig andere große – nämlich existenzielle – Probleme hat. (Gianluca Wallisch, 25.1.2023)