Für den STANDARD blickte Thomas Morgenstern wenige Tage nach seinem neunten Geburtstag auf eine sportliche Karriere zurück, die ihresgleichen nur mit Mühe findet. Freilich ist der legendäre Skispringer nicht am 10. Jänner 2014 zur Welt gekommen. Dass er nach seinem Sturz im Training für ein Fliegen am Kulm wieder zu sich gekommen ist, ja eine der schwersten "Brezn", die sein Sport je gesehen hat, ohne Spätfolgen überstanden hat, versteht der Kärntner bis heute als eine Art Wiedergeburt. Zu erzählen weiß Morgenstern über den Unfall, bei dem er neben Prellungen und Abschürfungen ein Schädel-Hirn-Trauma und eine Lungenquetschung erlitten hatte, nur wenig, "weil ich mich kaum an etwas erinnere. Aber es war eine Zäsur."

Rund acht Monate nach dem Sturz, nach einer kurzzeitigen Rückkehr in den Zirkus, die im Gewinn von Mannschaftssilber bei den Olympischen Spielen in Sotschi gegipfelt hatte, beendete Morgenstern seine Karriere. Das Überwinden der Angst vor jedem Satz war dem 27-Jährigen schlicht zu viel geworden.

Nachwirkungen kann Morgenstern heute, da er 36 Jahre alt ist, kaum feststellen. "Ich bin nicht mehr so draufgängerisch wie früher, auf Ski fahre ich nicht mehr voll über jeden Mugel drüber, lege lieber davor einen Schwung ein. Aber das kann auch das Alter sein", sagte der Vater dreier Töchter. Auch in seinen Träumen spielt das Skispringen keine Rolle, maximal in Tagträumen: "Manchmal, wenn ich so zuschaue, reizt es mich, wieder zu springen. Es war ja ein Traum, den ich mir erfüllen konnte."

Am 18. Februar 2006 jubelte der Kärntner Thomas Morgenstern am Skispringer-Olymp, gewann bei den Spielen von Turin einen Zehntelpunkt vor Andreas Kofler Gold auf der Großschanze.
Foto: imago

Innauers Fest

In Richtung Wirklichkeit hat sich Morgensterns erster Lebenstraum entwickelt, als er 14 Jahre alt war. Der sportlich vielseitig begabte Bursche aus Lieserbrücke war bei einem Skifest in Bad Kleinkirchheim, das unter der Patronanz von Toni Innauer stand, erstmals über eine echte Schanze gegangen, im folgenden Jahr eröffnete die Villacher Alpenarena den Sommerbetrieb. Nicht weniger förderlich war die Implementierung eines Schulsportmodells in Spittal/Drau. Dem jungen Morgenstern war klar, dass er es "als Fußballer nicht von der Landesliga nach Liverpool oder zum FC Barcelona schaffen werde".

Also Skisprung, "auch weil ich daheimbleiben konnte. Ich war immer ein Familienmensch." Daheim, das war auch der nordische Stützpunkt Villach mit Lehrmeistern wie Martin Wiegele und vor allem Heinz Kuttin. Der zweimalige Weltmeister wurde zum Mentor des Wettkampftypen Morgenstern, der in jeder Leistungsstufe einen zumindest gleichwertigen Konkurrenten fand, mit dem er sich messen konnte. Im Weltcup sollte das Gregor Schlierenzauer werden, doch als der Stern des Stubaiers aufging, hatte Thomas Morgenstern schon Stars wie Andreas Widhölzl oder Martin Höllwarth voll gefordert. 2003 gelang ihm auf der Großschanze zu Liberec der erste von 23 Weltcupsiegen, 2005, nach Rang drei bei der Vierschanzentournee, gab es für den 18-jährigen Jungspund bei der WM in Oberstdorf Mannschaftsgold auf der Normal- und der Großschanze, jeweils mit Wolfgang Loitzl, Widhölzl und Höllwarth.

Im Jahr darauf erklomm Morgenstern in Pragelato den Skispringer-Olymp. Am selben Abend, an dem mit Hausdurchsuchungen in Quartieren österreichischer Langläufer und Biathleten der Turiner Dopingskandal ausbrach, sprang Morgenstern zur Goldmedaille auf der Großschanze – einen Zehntelpunkt vor Andreas Kofler. Zwei Tage später holten die Zimmerkollegen und Freunde mit Widhölzl und Martin Koch noch Mannschaftsgold.

In den folgenden Jahren dominierten Österreichs Skispringer unter Coach Alexander Pointner die Szene. 2011 in Oslo gingen alle einschlägigen Goldmedaillen an den ÖSV, Morgenstern wurde am Holmenkollen vor Schlierenzauer Normalschanzenweltmeister und hinter dem Tiroler Zweiter auf der Großschanze. Die Rivalität war fruchtbar, aber zuweilen schwierig. "Das ist so, wenn einer so ähnlich ist wie du selbst", sagt Morgenstern, ohne den Weltrekordweltcupsieger zu nennen.

Heute fliegt Thomas Morgenstern nur noch im Helikopter.
Foto: THM/Michael Planitzer

Krafts Bewunderer

Vor Morgenstern (2011) und Schlierenzauer (2012, 2013) gewannen Loitzl und Kofler die Vierschanzentournee, danach hielt die Siegesserie noch bis 2015 an. Im Jahr, nach dem Morgenstern als zweimaliger Gesamtweltcupsieger, dreifacher Olympiasieger und elfmaliger Weltmeister abgetreten war, gewann Stefan Kraft die Tournee. Dem Salzburger gilt Morgensterns Bewunderung, "er wird fast ein wenig unterschätzt, bei all dem, was er schon gewonnen hat". Der Kontakt mit den alten Kollegen ist lose – "es verläuft sich eben" –, aber freundschaftlich, wenn man sich denn trifft.

Morgenstern ist privat mit seinen 14 Monate alten Zwillingstöchtern Sara und Tina gut beschäftigt. Lilly, seine Tochter aus einer früheren Beziehung, ist zehn Jahre alt und Skispringerin beim SV Villach. Ihr Interesse wurde beim Goldi-Cup geweckt, seit 15 Jahren die von Andreas Goldberger mit viel Liebe organisierte Nachfolgeveranstaltung des Innauer-Skifests, das ihrem Vater zum glücklichen Verhängnis wurde.

Der lebt inzwischen seinen zweiten Traum vom Fliegen. 2008, nach Abbruch der Polizeischule, erwarb Morgenstern seinen ersten Pilotenschein für Flächenflugzeuge. Später sattelte er auf Helikopter um und wurde in der Klasse Junior (bis 250 Flugstunden) sogar Weltmeister. Nach der Ausbildung zum Berufspiloten gründete Morgenstern 2017 mit einem viersitzigen Robinson R44 eine Bedarfsflugfirma, 2019 stieg der ehemalige Teamfußballer Martin Hinteregger ein.

Der Kärntner Landsmann, der erst in Pilotenausbildung ist, brachte unter anderem einen sechssitzigen Airbus H125 in die TMH-Helicopter GmbH für Personen- und Arbeitsflüge ein. Morgenstern, der sich immer noch großer Popularität erfreut, genießt den Umgang mit Kunden, die sich gerne in die Hände des ebenso flugkundigen wie kommunikationsfreudigen Olympiasiegers begeben – obwohl der quasi erst neun Jahre alt ist. (Sigi Lützow, 25.1.2023)