Nicht nur in der Europäischen Union eckt der ungarische Premier Viktor Orbán immer wieder an. Zuletzt wurde er auch innerhalb der Nato zum Sorgenkind.

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Abgesehen von der Türkei ist Ungarn das einzige Nato-Mitgliedsland, das den Beitritt Schwedens und Finnlands zum nordatlantischen Bündnis noch nicht ratifiziert hat. Faktisch entscheidet das Ministerpräsident Viktor Orbán im Alleingang. Der Rechtspopulist unterläuft immer wieder die Unterstützung des Westens für die von Russland überfallene Ukraine. Zum türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan pflegt er ein herzliches Verhältnis, das auch die einträgliche Zusammenarbeit der jeweiligen staatsabhängigen Oligarchen einschließt.

Bereits im vergangenen Juli erklärte Orbán bei seinem denkwürdigen – mit rassistischen Anmerkungen über "Völkervermischungen" gespickten – Auftritt im rumänischen Băile Tușnad, dass er "die Einwände der Türkei studieren" werde, bevor er das ungarische Parlament die Nato-Beitrittsverträge Schwedens und Finnlands ratifizieren lassen würde.

Nicht auf der Tagesordnung

Orbán bezog sich auf die Bemühungen Ankaras, die nordischen Nato-Aspiranten dazu zu zwingen, kurdische Aktivisten und exilierte Regimegegner unter dem Terrorismusvorwand zu kriminalisieren und an die Türkei auszuliefern. Der Ungar blieb damit der einzige Staats- oder Regierungschef aus einem Nato-Staat, der vorgab, den Inhalt von Erdoğans Rhetorik für bare Münze zu nehmen.

Eine öffentliche Erörterung der "Einwände" des türkischen Staatschefs fand aber in der Folge in Ungarn nicht statt. Im Oktober reichte die Budapester Regierung den Ratifizierungsantrag im Parlament ein. Die von Orbáns Regierungsmehrheit strikt kontrollierte Volksvertretung setzte ihn jedoch seitdem nicht auf die Tagesordnung. Anträge der linken und liberalen Opposition, die das verlangten, wurden abgeschmettert.

Gegen Jahresende versicherte Orbán mehrfach, dass die Ratifizierung bei der ersten Session des Parlaments im neuen Jahr auf die Tagesordnung gelangen und eine zügige Behandlung erfahren würde. Dies wäre dann wohl in der ersten Februarhälfte der Fall. Ein Datum steht noch nicht fest. Zugleich ist noch nicht klar, wie Orbán auf die jüngste Verhärtung der Haltung Erdoğans nach der Koranverbrennung bei einer Demonstration in Schweden reagieren wird. Montagabend hatte Erdoğan erklärt, Schweden könne nicht mit der Unterstützung der Türkei für einen Nato-Beitritt rechnen. Aus dem offiziellen Budapest äußerte sich bislang niemand dazu.

Oligarchen-Freunde

Tatsache ist, dass Orbán ein sehr freundschaftliches Verhältnis zum türkischen Autokraten pflegt. Bizarrerweise hat Ungarn seit 2018 Beobachterstatus im von Ankara angeführten Rat der Turkvölker.

Mit dem Osmanischen Reich, aus dem die heutige Türkei hervorging, verbinden die Ungarn eher leidvolle Erinnerungen, mit den anderen Turkrats-Mitgliedern Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan, Kirgisistan und Usbekistan gibt es keine Gemeinsamkeiten – sieht man von der wissenschaftlich widerlegten Lehrmeinung ab, die eine Verwandtschaft zwischen der ungarischen Sprache und den Turksprachen postuliert. Der darauf gegründete "Turanismus" ist ein Steckenpferd völkischer Rechtsextremisten, deren Ideologie Orbán in seinen Herrschaftsdiskurs integriert hat.

Die Nähe zur heutigen Türkei dürfte aber vor allem von geschäftlichen Interessen genährt sein. Einige Orbán-nahe Oligarchen pflegen mit Erdoğan-nahen Oligarchen enge Verbindungen. Mitglieder der Familie des türkischen Geschäftsmanns Adnan Polat erhielten sogar die ungarische Staatsbürgerschaft – und damit die eines EU-Landes. Der Baulöwe ist mit Erdoğan befreundet, war von 2008 bis 2011 Präsident des Istanbuler Sportclubs Galatasaray und ist häufig an Orbáns Seite zu sehen.

"Nationale Bedeutung"

In Ungarn baut Polat riesige Solarparks, für die nicht unwesentliche EU-Förderungen winken – insofern diese von der EU im Streit mit Budapest über mutmaßliche Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit freigegeben werden. Nach ungarischen Medienberichten soll Polat in Ungarn dutzende Firmen besitzen. Ein Teil beschäftigt sich mit der Errichtung von Wohnungen in großem Stil. Im Immobiliengeschäft kooperiert Polat mit Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz, der inzwischen einer der bedeutendsten Immobilien-Moguln des Landes ist. Ein Tiborcz-Vertrauter tauchte auch als Partner von Polats Solarpark-Entwicklungen auf.

Ungarns Regierungschef hilft dem türkischen Freund der Familie, wo er kann. Vor dem Einstieg Polats in das Solargeschäft waren Genehmigungen für den Bau solcher Anlagen nur schwer zu erhalten. Bei der Immobilienentwicklung wiederum verkürzen sich die sonst aufwendigen Genehmigungsverfahren auf wundersame Weise: Orbán erklärt Polats Projekte gegebenenfalls per Dekret einfach zur "Investition von besonderer nationaler Bedeutung". (Gregor Mayer aus Budapest, 24.1.2023)