Schnipp, schnapp, flapp, flapp – der Sound der Scheren hält bei Kimmy’s wieder Schritt mit den schnell rotierenden Deckenventilatoren. Zuletzt war diese Geräuschkulisse in der kleinen Schneiderei in Hoi An fast verhallt. Kein Wunder, hat doch die Pandemie auch in Vietnam oft für eine gespenstische Stille in den Geschäften und auf den Straßen gesorgt. Schon lange vor Corona war die putzige Stadt mit verfallender Kolonialarchitektur unter Globetrottern weithin bekannt für kunstfertige Schneiderinnen und Näher. Und seit der Öffnung Vietnams für den internationalen Tourismus vor fast einem Jahr stellen sich auch wieder mehr Urlauber an für Kleidung nach Maß. Das Rattern der Nähmaschinen und das Klappern der Scheren scheinen in Hoi An wie ein akustisches Konjunkturbarometer für die lokale Tourismuswirtschaft zu funktionieren.

Rund 500 Schneidereien buhlen in Hoi An um Kundschaft.
Foto: Sascha Aumüller

Gar nicht wenige Seiten in den Auftragsbüchern der rund 500 Schneidereien in der Altstadt von Hoi An, die seit 1999 zum Welterbe zählt, bleiben aber vorerst leer. Anders als Europa hat ganz Südostasien bis dato nicht an vorpandemische Verhältnisse im Tourismus anknüpfen können – und das, obwohl Vietnam gerade unisono von Reiseexperten, -magazinen und -blogs zum lohnenswerten Ziel für 2023 erkoren wird.

Langsame Erholung

Besuchten 2019 beachtliche 18 Millionen internationale Gäste Vietnam, waren es im gesamten Jahr 2022 nur 3,6 Millionen. Für 2023 erhoffen sich die Verantwortlichen nun wieder acht Millionen Urlauber aus dem Ausland, wobei vor allem um chinesische Besucher gebuhlt und der russische Markt eher abgeschrieben wird. Doch vielleicht ist das momentan der lohnendste Aspekt: Noch kommen nicht ganz so viele Touristen wie vor der Pandemie, was auch für ein deutlich besseres Preis-Leistungs-Verhältnis im Vergleich zu anderen Ländern der Region sorgt.

Die multinational geprägte Kolonialarchitektur, die zum Welterbe zählt, gammelt fotogen vor sich hin.
Foto: Sascha Aumüller

Verwaist wirkt Hoi An, das bis ins 18. Jahrhundert ein wichtiger Handelshafen war und aktuell rund 120.000 Einwohner zählt, auch ohne Chinesen und Russen nicht. Vor allem Backpacker aus Europa, Taiwan und Korea bevölkern derzeit den Architekturmix am Fluss Thu Bon, der sein blaugraues Wasser über unzählige Kanäle durch die Stadt schickt. Der obligatorische Venedig-Vergleich bleibt Hoi an zum Glück dennoch erspart, zu eigenständig erscheint die Kulisse aus vietnamesischen Röhrenhäusern mit chinesischen Dächern und französischen Fensterläden rund um die bekannte japanische Brücke aus dem Jahr 1593.

In diesem Ensemble haben sich gerade unzählige Coffeeshops mit global gleichgeschalteter Innenarchitektur breitgemacht, und darin junge Rucksacktouristen und Telearbeiter mit Laptops. Letztere werden demnächst auch das WLAN der ersten Starbucks-Filiale der Stadt benutzen können.

Tropenfruchttransport auf der letzten Meile.
Foto: Sascha Aumüller

Wer sich kulinarisch weiter hinaus lehnen möchte als mit Caffè Latte und New-York-Cheesecake aus bequemen Fauteuils in den Coffeeshops, hat in Hoi An überall die Möglichkeiten dazu. In Gehweite der japanischen Brücke haben sich mehrere kleine Röstereien angesiedelt, die um die Bedeutung und die Besonderheiten vietnamesischer Kaffeebohnen wissen. Diese werden auf dem Weltmarkt schon fast so häufig gehandelt wie die Robusta-Sorten des Exportweltmeisters Brasilien.

Junge Kaffeekultur

Bei Hoa Champa auf der zentralen Hauptstraße der Altstadt lassen sich etwa heimische Sorten wie der unglaublich koffeeinstarke Culi probieren oder der typische Ca phe sua, schwarzer, langsam durch die spezielle Kannen tropfender Kaffee mit gesüßter Kondensmilch und Eis. Auch Kakao und somit Schokoladen sind in erstaunlichen Qualitäten zu finden, obwohl der systematische Anbau von Kaffee- und Kakaobohnen in Vietnam erst spät einsetzte.

In ganz Vietnam finden sich solche Speisewagerl.
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Huynh Huu Phuoc gestaltet seinen Grundkurs für zentralvietnamesische Geschmäcker recht spannend. Der junge Mann aus Hoi An entführt dabei in Hinterhöfe und Wohnzimmer, die Ortsfremde nie finden würden. Und schon gar nicht würden sie es wagen, einfach bei Privat leuten hereinzuspazieren und sich zum Essen einzuladen.

An alles gedacht

"Mister Fork" – wie er sich für sein meist englischsprachiges Publikum nennt – bietet eine mehrstündige Streetfoodtour an. Dabei hat er an alles gedacht – sogar an Umhängebeutel, in denen ein persönliches Besteckset für bakteriell verweichlichte Europäer steckt.

Hoi An ist im ganzen Land und darüberhinaus für seine kunstvollen Papierlampions bekannt.
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Herr Phuoc macht in einer schummrigen Seitengasse mit Papierlampions unter einer großen blauen Plastikplane Halt. Eine etwa 80-jährige Frau sitzt dort mit ihrer 30 Jahre jüngeren Tochter, seit vielen Stunden rühren sie in großen Töpfen. "Die beiden machen das beste Frühstück der Stadt, Bun bo Ba Nghia", sagt Mister Fork. Geboten wir hier auf der Gasse vor dem Wohnhaus der Frauen eine kräftige Rindsuppe mit Nudeln, die stundenlang kocht und für Passanten aus dem Viertel als Stärkung vor einem anstrengenden Arbeitstag verdrückt wird.

Bei einer Streetfoodtour durch Hoi An geht's auch in die Hinterhöfe.
Foto: Sascha Aumüller

Am ehesten erinnert das Gericht an Tafelspitz, der mit Blutwurst und vielen frischen Kräutern in der Suppe serviert wird. Auch eine hausgemachte Fischsauce darf darin nicht fehlen, wie bei den meisten Varianten einer Pho, der vietnamesischen Suppe schlechthin. Wie wichtig und variantenreich Suppe in Vietnam tatsächlich ist, wird auf der Tour noch bei vielen Stationen klar: Sei es bei der süßen Suppe aus schwarzen Sesamsamen, die wie frisch angelieferter Teer für eine neue Autobahn aussieht, oder bei stärkehaltigen Eintöpfen mit reichlich Tapioka, die so kompakt daherkommen wie ein steirischer Sterz.

Gemischtwarenhändler haben oft auch nebenbei eine kleine Garküche.
Foto: Sascha Aumüller

Es gibt eine Herausforderung auf dieser Tour: Wer die 21 Stationen allesamt bewältigen will, muss sich – um durchzuhalten – leider auch dort zurückhalten, wo es besonders gut schmeckt. Denn erst nach den hervorragenden Meeresschnecken zum Zuzeln und der hauchdünnen Hoi-An-Pizza zum Knuspern ist für manche das sättigende Highlight von Hoi An, mit Pastete gefüllte Baguettes, erreicht. Bei Banh Mi Phuong, der immervollen Baguette bude, saß einst auch ein sehr bekannter TV-Ansager für kulinarische Entdeckungen und soll gesagt haben: "Hier gibt es eines der besten Sandwiches der Welt." Die Rede ist von Anthony Bourdain, der sich beruflich häufig durch Vietnam aß, einmal auch in der Hauptstadt Hanoi mit Barack Obama für "Parts Unknown", seine kulinarische Reisesendung auf CNN.

Das Anantara-Hotel von Hoi An liegt direkt am Fluss Thu Bon.
Foto: Anantara

Streetfood, das für internationale Gaumen kreativ aufgemotzt wurde, findet man im Restaurant des Anantara-Hotels direkt am Flussufer. Hier einzukehren lohnt auch dann, wenn man nicht Hotelgast ist. Sowieso wegen der hervorragenden Küche, aber auch, weil man mit eigenen Augen von der Terrasse sehen kann, wie kurz die Transportwege der regionalen Zutaten tatsächlich sind: Auf dem Fluss Thu Bon schippern ständig von frischem Obst und Gemüse überbordende, fotogene Kähne zwischen den Ufern hin, her und nur knapp am Esstisch vorbei.

Auf dem Fluss bilden sich oft spontan schwimmende Märkte.
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Zum Glück betreibt dieses Hotel auch einen eigenen Speisewagen, sollte man bereits auf dem Weg raus aus Hoi An wieder Hunger bekommen. Der Salonwagon namens "The Vietage" wird an den regulären Fernzug von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt angehängt und bringt einen 300 Kilometer in Richtung Süden nach Quy Nhon. Wer dort zufällig oder auch nicht in einem weiteren Anantara-Hotel landet, lernt sicher bald den Chefkoch des Hauses kennen.

Im Luxuswagon "The Vietage" ist nur für ein Dutzend Reisender Platz, das auf der Fahrt verköstigt wird.
Foto: The Vietage

Er stellt sich als Vinh Tran vor, was nicht gleich auf ein Verwandtschaftsverhältnis mit Huynh Huu Phuoc deutet. Und doch ist der international gefragte Koch, der zuvor schon im Luxushotel The Chedi Andermatt tätig war, der Bruder des Streetfood-Guides in Hoi An. "Wir machen den gleichen Job", sagt er bescheiden und lädt wie zum Beweis früh am nächsten Tag zu einer Markttour durch Quy Nhon.

Die Straßenmärkte von Quy Nhon sind noch sehr ursprünglich.
Foto: Sascha Aumüller

Während einen in Hoi An das Gefühl beschleicht, es werde wohl bald wieder als eine Art vietnamesisches Hallstatt seinen Overtourism zurückbekommen, fehlen im Ortsbild von Quy Nhon noch weitgehend ausländische Gäste. Die Betonung liegt auf "noch".

Reiche Gewässer

Nördlich und südlich der 500.000-Einwohner-Stadt am südchinesischen Meer liegen an den feinsandigen Stränden gigantische Skelette vorerst in der Pandemie gestorbener Hotelprojekte. Die fischreichen Gewässer vor der Stadt wurden durch einen Tiefseehafen erschlossen, der sich auch potenziell für Kreuzfahrtschiffe eignet. Ob sie gar so bald anlegen werden, ist fraglich. Bis dato zeigt sich die ganz große touristische Infrastruktur eben zum Glück erst als unfertige Skizze aus Stahlbeton.

Das Anantara-Resort am Strand südlich von Quy Nhon hat noch keine große Konkurrenz. Die Betonung liegt auf "noch".
Foto: Anantara

Auf dem zentralen Markt von Quy Nhon ist schon früh am Morgen einiges los. Dicht an dicht sitzen die Verkäuferinnen auf blauen Plastikplanen oder direkt auf der Straße, mittendrin steht Vinh Tran und sagt zu den Hotelgästen im Schlepptau: "Sucht euch was aus. Ich bereite es später zu." Seelenruhig schaut er zu, wie sich einer für gefährlich aussehende Tiefseekrabben entscheidet und eine andere Mutige für zweierlei Sorten Insekten, die bald wie vietnamesischer Kaffee im großen Stil auch nach Europa exportiert werden. Dann kommen noch Algen und Seeigel, ein paar Wachteleier und Hühnerkrallen ins Einkaufssackerl.

Eine unlösbare Aufgabe für den Chefkoch, aus erratisch erworbenen Zutaten etwas Schmackhaftes zu zaubern? Keineswegs. Am Abend serviert Vinh Tran den Einkauf als ausgeklügeltes, sterneverdächtiges Menü in fünf Gängen im Hotelrestaurant mit den Worten: "Streetfood. Aber das kennt ihr ja schon von meinem Bruder."

Um in den Straßen von Hoi An gemütlich zu essen, sollte man sich vermutlich beeilen. An den ruhigen Stränden von Quy Nhon bleibt wohl noch länger Zeit zum Genießen. (Sascha Aumüller, RONDO, 26.1.2023)