Lippenstifteffekt bezeichnet den Trend, in Krisenzeiten nur kleine Alltagsluxusgüter anzuschaffen. Defluencer raten explizit von diesem Verhalten ab.

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Wann immer eine neue Social-Media-Plattform einen Aufstieg erlebt, stellt sich für Unternehmen jeglicher Branche die Frage: Wie kann man davon profitieren? So war es auch bei Tiktok, eine der meistheruntergeladenen Apps. Weltweit wird Tiktok von über einer Milliarde Menschen genutzt, die Userinnen und User sind zu fast 50 Prozent zwischen 18 und 25 Jahre alt. Nach Instagram ist Tiktok der wichtigste Marketingkanal für Zoomer, sprich die Generation Z.

Neben Produktplatzierungen in Form von bezahlten Partnerschaften mit Influencerinnen und Influencern findet man auch zahlreiche Empfehlungen von Userinnen und Usern, die von Brands nicht gesponsert werden. Sie teilen auf Tiktok Lieblingsprodukte und verwenden dabei Phrasen wie "done gatekeeping", sie wollen also vermeintliche heilige Grale keinem vorenthalten. Bei dieser Art von Content handelt es sich meistens um Kosmetik, Haut- und Körperpflege oder Mode. So wird beispielsweise Make-up der Marke Charlotte Tilbury in den Himmel gepriesen – ein Produkt, das als Geheimnis der Stars auf dem roten Teppich gehütet wurde.

Doch seit einigen Tagen kursiert ein neuer Trend in der Beauty-Nische von Tiktok: Defluencing – also das Gegenteil von Influencing. Userinnen und User sprechen über Produkte, die sie aufgrund von Empfehlungen von Influencerinnen und Influencern gekauft und die sich im Nachhinein als Fehlgriff herausgestellt haben. Das besagte Hollywood-Make-up von Charlotte Tilbury kommt da auch des Öfteren vor.

Der Hashtag #Defluencing hat bereits 8,8 Millionen Aufrufe. Junge Menschen kritisieren, sich selbst mitgemeint, einen Überkonsum an Produkten aufgrund von viralen Trends, die dann kaum oder nie verwendet werden. Statt Kaufempfehlungen wollen Userinnen und User, die Defluencing unterstützen, davon abraten, sich Dinge zu kaufen, die sie getestet haben und die den Hype nicht wert waren.

Trends gehen durch datengesteuerte Algorithmen über Nacht viral, sie kommen und gehen aber auch in Lichtgeschwindigkeit. Was für Microtrends sorgt: Inhalte, Phänomene, Produkte haben trotz großer Popularität nur eine kurze Lebensdauer, und so erklären sich kritische Geister den übermäßigen Konsum. "Aesthetics" überfluten Tiktok in einem Takt, dem man kaum folgen kann: Weird Girl, Succubus-Chic, Clean Girl, Vanilla-Girl, all diese Looks erfordern die dazu passende Mode, passendes Make-up, das richtige Parfum.

Einige Userinnen und User sprechen explizit aus, dass Defluencing wegen der Rezession notwendig sei. Defluencing trendet derzeit auf den englischsprachigen Accounts von Tiktok. Während in Europa die Rezession mild ausfallen dürfte, steigt die Angst in Großbritannien und den USA. Das bereitet auch der jungen Generation Sorgen, denn Befragungen zufolge befindet sich die Generation Z in einer Schuldenkrise. "Shoppe jetzt, bezahle später"-Modelle wie Klarna machen das Shoppen zwar einfach, doch das Bezahlen unübersichtlich, und die vielen kleine Beträge häufen sich.

Als Generationen, die in Zeiten einer krisengebeutelten Wirtschaft aufwachsen, haben Gen Y und Z kaum Vermögen. Große Anschaffungen wie ein Eigenheim sind für die wenigsten realistisch, es kommt zum "Lipstick-Effekt", man gönnt sich in Krisenzeiten kleine Alltagsluxusgüter wie zum Beispiel einen Lippenstift. In den Defluencing-Tiktoks wird aber genau davon abgeraten: Man solle in die Zukunft investieren, in nachhaltigere Produkte oder auf einen schönen Urlaub sparen, anstatt Wegwerfware zu horten.

Weil jeder Trend in der Sekunde seines Entstehens auch Kritikerinnen und Kritiker mit sich bringt, musste man auch beim Defluencing nicht lange darauf warten, bis sich diese zu Wort meldeten. Die Kritik an der Influencing-Kritik ist, dass auch Defluencing eine Art Beeinflussung ist. Werbung und Marketing sei schon immer dagewesen, und es läge in der Natur von Unternehmen, ihre Produkte zu bewerben. Außerdem würden viele Influencerinnen und Influencer noch immer authentisch sein und Dinge aus Überzeugung empfehlen. Man sei also selbst dafür verantwortlich, wie und wofür man sein Geld ausgibt, und solle nicht einen Sündenbock suchen.

Ob junge Menschen beim Umgang mit Geld und Werbung gänzlich der Eigenverantwortung überlassen werden sollen, ist fraglich. Abzuwarten bleibt auch, wie sich der Trend entwickelt und ob er massiver nach Europa überschwappt. Vielleicht wird dadurch der Beruf des Influencers irgendwann sogar unattraktiv. (Vanja Nikolić, 26.1.2023)