Der Kampf gegen Infektionskrankheiten hat in der Familie von Michel Nussenzweig Tradition. Die Eltern des in Brasilien geborenen Immunologen waren Parasitologen, seine als Kind von den Nazis aus Wien vertriebene Mutter Ruth Nussenzweig machte sich mit ihrer Forschung zu Malaria-Impfstoffen einen Namen. In seiner eigenen Arbeit an der Rockefeller University und am Howard Hughes Medical Institute in den USA konzentrierte sich Michel Nussenzweig auf HIV und entdeckte Antikörper, die gegen mehrere Stämme neutralisierend wirken und als Immuntherapeutikum eingesetzt werden können.

Seine Erkenntnisse zu Mechanismen des Immunsystems nutzte Nussenzweig auch in der Corona-Pandemie, um das Potenzial von Auffrischungsimpfungen gegen Sars-CoV-2 zu untersuchen. Dabei konnte er zeigen, warum Boosterimpfungen mit mRNA-Vakzinen, die auf dem Stammvirus beruhen, auch längerfristig vor anderen Varianten schützen. Seine Ergebnisse dazu präsentierte Nussenzweig vergangene Woche auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, die zu Ehren seiner Mutter die Vortragsreihe "Ruth S. Nussenzweig Lectures" ins Leben gerufen hat.

Die B-Zellen, auch B-Lymphozyten oder Gedächtniszellen genannt, zählen zu den weißen Blutkörperchen. Gemeinsam mit den T-Zellen machen sie jenen Teil des Immunsystems aus, der sich an Krankheitserreger anpassen kann.
Illustration: Getty Images / iStockphoto

STANDARD: Viele Menschen infizieren sich trotz mehrfacher Impfungen mit dem Coronavirus, der Impfschutz vor schweren Verläufen ist aber bisher auch für neu auftretende Varianten gut. Wie kommt das?

Nussenzweig: Wenn das Immunsystem durch den Impfstoff aktiviert wird, stellt es verschiedene Arten von Zellen her – darunter jene, die zirkulierende Antikörper produzieren, die Infektionen abwehren sollten. Die Menge ist für einen Infektionsschutz aber unzureichend. Eine andere Zellart, die B-Gedächtniszellen, ist ebenfalls in der Lage, für Antikörper zu sorgen, tut dies aber unter normalen Umständen nicht. Wenn es aber zu einer Durchbruchsinfektion kommt, können diese Gedächtniszellen vielfältigere und damit breiter wirksame Antikörper herstellen, die auch andere Virusvarianten erkennen. Das ist einer der Gründe, warum diese Impfstoffe so wirksam darin sind, schwere Erkrankungen zu verhindern. Das gilt insbesondere nach der dritten Auffrischungsimpfung.

STANDARD: War damit zu rechnen, dass die Gedächtniszellen einen breiten Schutz gegen weitere Varianten ermöglichen?

Nussenzweig: Nein, das war zunächst überhaupt nicht klar. Wir haben wirklich großes Glück mit den mRNA-Impfstoffen. Wenn Sie an andere Vakzine denken, etwa gegen Influenza, da funktioniert das so nicht – Sie brauchen jedes Jahr eine neue Impfung. Für das Influenzavirus gibt es nur sehr wenige breite Antikörper, die die Immunzellen produzieren können. Bei Sars-CoV-2 ist das anders. Die Mechanismen sind komplex, aber es sind auch die Eigenschaften unseres Immunsystems, die diese Impfstoffe so umfassend und wunderbar machen.

STANDARD: Gehen Sie also davon aus, dass künftig keine jährlichen Corona-Auffrischungsimpfungen nötig sein werden?

Nussenzweig: Es ist noch nicht klar, wie lange die Boosterimpfungen schützen, aber ich denke, dass es tatsächlich länger sein wird. Die Notwendigkeit einer künftig jährlichen Auffrischungsimpfung erwarte ich nicht. Ich glaube aber auch nicht, dass die Wirkung additiv sein wird, dass wir also durch weitere Impfungen immer besser geschützt sein werden. Es wird ein gewisses Maß an Immunität aufrechterhalten werden.

"Der Optimist in mir sagt: Mit den verfügbaren Impfstoffen haben wir Corona im Griff", sagt Michel Nussenzweig.
Foto: ÖAW/Daniel Hinterramskogler

STANDARD: China, das eine Kehrtwende seiner Null-Covid-Politik vollzogen hat, erlebt eine dramatische Infektionswelle. Genaue Zahlen fehlen, Fachleute gehen aber von sehr vielen Toten aus. Wie hängt das mit der Impfsituation zusammen?

Nussenzweig: Was in China los ist, hat unterschiedliche Gründe. Das plötzliche Öffnen spielt natürlich eine große Rolle. Fest steht aber auch, dass die wenigsten Leute einen guten Impfschutz haben. Das liegt einerseits an den verwendeten Impfstoffen, die schlechter funktionieren, andererseits auch an der Verabreichungspraxis: Die meisten Geimpften haben nur zwei Dosen bekommen, die dritte, sehr wichtige Impfung haben viel weniger Menschen erhalten. Und jetzt gibt es Orte, wo 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung infiziert sind, gleichzeitig.

STANDARD: Das klingt nach guten Bedingungen für die Entstehung neuer Varianten.

Nussenzweig: Nun ja, China ist Teil der Welt, überall infizieren sich ständig Leute. So gesehen ist auch überall ein Nährboden für neue Varianten. Und sicherlich wird es neue Varianten geben. Der Optimist in mir sagt aber: Mit den heute verfügbaren funktionierenden Impfstoffen haben wir Corona im Griff.

STANDARD: In Österreich sollen demnächst die Corona-Maßnahmen abgeschafft werden, auch das Covid-Monitoring soll zurückgefahren werden. Ist das eine schlechte Idee?

Nussenzweig: Das ist eine politische Entscheidung. Die Leute wollen ganz zurück zur Normalität, das ist verständlich. Ist es wichtig, dass wir uns alle weiterhin dauernd testen? Wahrscheinlich nicht. Das Wichtigste ist ein breiter Impfschutz. Solange nicht viele Menschen schwer erkranken und die Krankenhäuser nicht überlastet sind, denke ich, sind wir im Grunde dort, wo wir einmal waren. Sollten wir das Virus weiterhin genau beobachten, um neue Varianten zu erkennen und zu erforschen? Unbedingt. Das tun wir auch für andere Viren. Sollten Menschen, die aufgrund bestimmter Vorerkrankungen anfälliger sind, schwere Covid-Verläufe zu haben, weiterhin aufpassen? Absolut.

STANDARD: Erlauben Sie mir noch eine persönliche Frage. Sie halten Ihren Vortrag in Wien, der Stadt, aus der Ihre Mutter vor antisemitischer Verfolgung fliehen musste. Wie ist das für Sie?

Nussenzweig: Ich freue mich, heute hier zu sein. Meine Mutter war später auch mehrmals in Wien, um Vorträge zu halten, aber für sie war das sehr schmerzhaft. Ihre Kindheit war traumatisch, kaum jemand aus ihrer Großfamilie überlebte. Aber sie fand Antrieb in ihrer Arbeit, die Forschung war das Wichtigste in ihrem Leben. Das war auch der größte Einfluss, den sie auf mich hatte: zu sehen, wie sehr sie liebte, was sie tat. (David Rennert, 27.1.2023)