Slut-Walks finden noch immer statt – etwa hier in Jerusalem im Sommer 2022.

Foto: APA/AFP/AHMAD GHARABLI

Die Worte eines Polizisten lösten 2011 eine große feministische Bewegung gegen die Täter-Opfer-Umkehr bei sexualisierter Gewalt aus. Der Beamte an der York University in Toronto sprach über "präventive Verbrechensbekämpfung" – und hatte einen Ratschlag exklusiv für Frauen parat: "Frauen sollten vermeiden, sich wie Schlampen anzuziehen, um nicht zum Opfer zu werden." Nach Bekanntwerden dieses Ausspruchs entstanden von Kanada ausgehend weltweit die "Slut-Walks", mit denen gegen der Fokus auf das Aussehen und Verhalten von Frauen und Mädchen protestiert wurde. "A Dress is not a Yes" war damals eine der zentralen Botschaften der Slut-Walks.

Trotz dieser vieldiskutierten und damit bewusstseinsbildenden Protestbewegung ändert das für viele Eltern bis heute nichts daran, dass sie ihre Töchter so gut wie irgendwie möglich gegen Übergriffen wappnen wollen – und auch bei ihnen selbst ansetzen. In dieser Absicht kommentieren sie deren Kleidung oder Verhalten. Insbesondere feministische Mütter und Väter werden sich allerdings dann wiederum fragen: Übertragen wir so jungen Frauen und Mädchen nun doch wieder Verantwortung für sexualisierte Gewalt an ihnen?

User:innen beantworteten diese Frage für unsere Reihe "Feministische Gewissensfrage" sehr unterschiedlich und zum Beispiel so: Egal, wer schuld sei – mit den Konsequenzen müssten die Opfer leben. Deshalb sei es wichtig, Töchtern weiterhin zu sagen, sie sollten aufpassen, zum Beispiel ihre Getränke nicht unbeaufsichtigt stehen lassen oder abends Taxi fahren.

Die Psychoanalytikerin Angelika Breser warnt allerdings davor, zu glauben, mit bestimmten Verhaltens- und Kleidervorschriften sexualisierte Übergriffe abwehren zu können – wenngleich es wegen K.-o.-Tropfen tatsächlich gut sei, sein Getränk nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Bresers Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Trauma und sexualisierte Gewalt zudem hat sie 20 Jahre in einer Beratungsstelle mit von Gewalt Betroffenen gearbeitet. Breser kritisiert, dass hier noch immer der Fokus auf den Mädchen und Frauen liege – während sie gleichzeitig von ihrem Umfeld sexualisiert würden, im Gegensatz zu den Burschen. "Wenn Mädchen etwa in ihrer Schulen ein bauchfreies Top anhaben, wird das kommentiert – während ihre Mitschüler völlig frei von jeglichen Kommentaren und Urteilen auch mit nacktem Oberkörper turnen können", sagt Breser.

Das Österreichische Institut für Familienforschung erhob in einer Umfrage im Jahr 2011, dass drei Viertel der Frauen im Laufe ihres Erwachsenenlebens belästigt worden sind. 24,8 Prozent aller befragten Frauen hatten sexuelle Belästigung in Form von ungewollten, versuchten Berührungen oder Küssen erlebt. Sieben Prozent der befragten Frauen gaben an, eine Vergewaltigung erlebt zu haben, und weitere 8,9 Prozent berichteten von einer versuchten Vergewaltigung.

"Es ist eine Illusion, dass ein Rollkragenpulli, ein längerer Rock oder ein Alarmpiepser Mädchen schützt", so die Psychotherapeutin. Denn es gehe nicht um Provokation, sondern um Gewalt – und somit um eine Machtdemonstration. Ebenso wenig könnten wir unsere Töchter davor schützen, welche Fantasien etwa ein Musiklehrer hat. Bei den Betroffenen ist diese Abgrenzung zu den Handlungen der Täter allerdings alles andere als präsent. In 20 Jahren Erfahrung mit Gewaltopfern hat Breser keine Betroffene erlebt, die sich nicht schuldig und für die Tat mitverantwortlich gefühlt habe, erzählt sie. Das Gefühl von Schuld beobachtete sie bei allen, egal ob es um einen fremden Täter ging – was viel seltener vorkommt – oder um den eigenen Freund oder Verwandte.

Mythen über sexualisierte Gewalt

Die Verschiebung der Schuld zu den Betroffenen habe auch eine konkrete Funktion, erklärt Breser. Unabhängig davon, ob es nun die Betroffenen seien, die sich selbst die Schuld geben, ob es ihr Umfeld sei, dass ihnen die Verantwortung zuschiebt, oder die Gesellschaft insgesamt – letztlich hänge es immer mit einer Abwehr eines Kontrollverlusts zusammen. "Für die Psyche ist es einfacher, wenn wir die Verantwortung beim Opfer suchen, das ist ein Weg, es auszuhalten", sagt Breser. Es sei schwer zu ertragen, "dass es sich bei sexueller Gewalt um Situationen handelte, in denen man selbst oder jemand ohnmächtig war".

Sich mit dem Opfer zu identifizieren hieße außerdem, es könnte einem auch selbst passieren – egal wie man sich verhält oder anzieht. "Sexualisierte Gewalt und die damit verbundene Machtlosigkeit sowie die Gefahr der eigenen Betroffenheit machen Angst", heißt es auch auf der Seite des österreichischen Bundes autonomer Frauenberatungsstellen zu sexualisierter Gewalt.

Verschiedenen Mythen über Vergewaltigungen, die der Bund autonomer Frauenberatungsstellen beschreibt, würden Frauen und Mädchen eine Mitverantwortung zuspielen. Einer dieser Mythen ist der öffentliche Raum als gefährlicher Ort, etwa der spätabendliche Heimweg. Doch zwei Drittel aller Vergewaltigungen finden im sozialen Umfeld der betroffenen Mädchen und Frauen statt. Dort, wo sie sich sicher fühlen und überwiegend durch Freunde, Bekannte, Partner oder Verwandte Gewalt erfahren.

Was kann man also tun? Darüber reden, das ist auch laut Angelika Breser zentral – und zwar mit Mädchen und Burschen. Mit jungen Frauen und Mädchen darüber, dass sie zu jedem Zeitpunkt Nein sagen können und ihre Grenzen kennen. "Und mit Burschen darüber, dass natürlich auch sie ihre Grenzen haben, aber auch Grenzen zu beachten haben." (Beate Hausbichler, 26.1.2023)