Warlam Schalamow (1907–1982) überlebte das Netz aus Straf- und Arbeitslagern (kurz: "Gulag") in Stalins Terrorregime. Als Autor wurde er zum Chronisten der eigenen Widerstandskraft.

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Seine Darlegungen über das menschenverachtende System des Gulag betrachtete Autor Warlam Schalamow (1907–1982) als Zeugnis der Stärke. Aus ihm, dem Sohn eines russischen Geistlichen, sprach der Stolz, gegenüber allen Unbilden unbeugsam geblieben zu sein. "Jede meiner Erzählungen", vertraute er 1971 einem Brieffreund an, "ist eine Ohrfeige für den Stalinismus, und wie jede Ohrfeige gehorcht sie reinen Muskelgesetzen."

Schalamow war mehrmals sowjetischer Gulag-Häftling. Seine zweite Verhaftung erfolgte im Zuge der Stalin'schen Terrorkampagne 1937. Der Journalist diverser Gewerkschaftszeitungen wurde deportiert. So schildert es auch Franziska Thun-Hohenstein in ihrer neuen Biografie eines Widersetzlichen: Gemeinsam mit zehntausenden Willküropfern landete Schalamow, ein "linker" Oppositioneller mit sozialrevolutionären Neigungen, im äußersten fernen Osten Sibiriens. Kolyma heißt dort ein Fluss, der in die Ostsibirische See mündet.

Vor Ort findet man den Kältepol der Erde, mit Wintertemperaturen von 60 Grad unter null. Wie man in Schalamows Erzählungen aus Kolyma nachlesen kann, mussten die Häftlinge im weitverzweigten Lagersystem als Minenarbeiter schuften, um sich nach getaner Arbeit mit dünner Rübensuppe und kargen Brotrationen unzulänglich zu ernähren. Viele von ihnen wurden unweigerlich zum "dochodjaga": ein Mensch, den die physische Auszehrung apathisch macht und zur Preisgabe seines Lebenswillens nötigt.

Karge Prosa

Die Bedeutsamkeit von Schalamows Literatur liegt in ihrer "Auferweckungskraft". Mit kargen Prosastrichen versteht es der Autor, Anteilnahme zu wecken. Es scheint, als hätte Schalamow, der langjährig "politisch" Verurteilte, sich nachträglich der eigenen Zähigkeit versichern wollen. Vier Bände umfasst das Erzählwerk zum Thema, weitere zwei Bücher enthalten persönliche Erinnerungen. Seit ein paar Jahren hält der Verlag Matthes & Seitz diese existenziell wichtigen Schriften in mustergültigen Ausgaben parat. Gabriele Leupold hat Schalamows gleichsam beinerne, in ihrem Verzicht auf jedwede Ausschmückung hochmoderne Prosa in ein gestochen scharfes Deutsch übersetzt.

Doch erst jetzt lassen sich die vielen dunklen Flecken in Schalamows Leben auch wirklich zufriedenstellend aufhellen. Thun-Hohenstein hat vor allem durch Sichtung der Archive neues, aufschlussreiches Material gewonnen. Nunmehr steht fest: Schalamow, der störrische Überlebende, wollte mit der Weltanschauungsprosa eines Alexander Solschenizyn – trotz anfänglicher Sympathien – nichts zu tun haben.

Zu betrachten bleibt der staunenswerte Fall eines Zerrissenen. Obwohl von Stalin zur Unperson degradiert, hielt Schalamow – er kehrte erst 1956 nach Moskau zurück – der Sowjetunion die Treue. Der reale Sozialismus machte aus dem Lagerveteranen einen mürrischen Zeitzeugen, der, nervenkrank und von Veitstänzen geplagt, in seinem winzigen Zimmer gestochen scharfe Protokolle verfasste. Die jedoch ungleich mehr waren als bloße Zeugnisse.

Schalamow verschränkte in seiner Erzählliteratur die Frage nach der ästhetischen Verarbeitung des Terrors mit einer anderen: derjenigen nach einer sittlichen Bewältigung. "Das Lager erzählen" meint, an Grenzen zu stoßen. Es handelt sich um solche des Erinnerns. Zugleich treibt den Schreibenden die Intuition um, dass jeder Mensch die Kraft besitzt zu widerstehen. Schalamow meint, dass man selbst im Wissen um den drohenden Tod imstande sein muss, die eigene Unabhängigkeit zu bewahren.

Abgehängtes Porträt

Noch den Nachfolgern seines Widersachers Stalin bot der Unbeugsame die Stirn. Es gehört zur Tragik Schalamows, dass er Wohlmeinende vor den Kopf stieß und selbst Verbündete wie Nadeshda Mandelstam brüskierte. Seine Aufarbeitung des Stalin-Terrors blieb noch in den 1970ern tabu. Seine eigene Literatur zirkulierte in Abschriften unter der Hand. Als einige seiner Erzählungen aus Kolyma im Westen zu kursieren begannen, mimte er in der sozialistischen Öffentlichkeit den Empörten. Man belohnte seine Ablehnung der Dissidentenszene mit der Aufnahme in den Schriftstellerverband.

Der Kotau bewahrte Warlam Schalamow 1982 nicht vor einem einsamen Tod. Getreu den Muskelgesetzen blieb er zuletzt obenauf. Die Frontscheibe des Busses, der seinen Sarg zum Friedhof transportierte, zierte ein Stalin-Porträt. Als man dem Fahrer mitteilte, dass er einen Lagerinsassen zu Grabe trage, entfernte der schleunigst das Konterfei des Staatsmörders. (Ronald Pohl, 26.1.2023)