Die ersten Auffälligkeiten einer Autismus-Spektrum -Störung treten häufig bereits vor dem dritten Lebensjahr auf. Aber es gibt auch immer mehr Fälle, in denen eine Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wird.

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Wenn man ein Kleinkind anlächelt, lächelt es in den meisten Fällen zurück, sucht den Blickkontakt und steigt auch gern ins gemeinsame Spiel ein. Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung hingegen fallen häufig genau diese Dinge schwer. Die ersten Auffälligkeiten einer ASD – so die Kurzbezeichnung – sind oft bereits vor dem dritten Lebensjahr bemerkbar – aber nicht immer. Denn es gibt auch wenig ausgeprägte Formen, dann werden Diagnosen manchmal gar nicht oder erst im Erwachsenenalter gestellt.

Die Zahl der diagnostizierten Fälle steigt jedoch seit Jahren deutlich an. Eine neue Studie aus den USA, die jetzt im Fachblatt Pediatrics erschienen ist, verdeutlicht, wie stark dieser Anstieg ist. Zwischen den Jahren 2000 und 2016 sind die Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen in und rund um die Metropole New York um bis zu 500 Prozent angestiegen. Dabei war der höchste Anstieg bei autistischen Kindern ohne geistige Behinderung zu verzeichnen.

Biologische Trigger möglicher Grund

In vier Stadtbezirken identifizierten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter 4.661 Kinder im Alter von acht Jahren mit Autismus-Spektrum-Störungen. Von diesen hatten 32,3 Prozent eine geistige Behinderung, 59,3 Prozent hatten keine. In neun Prozent der Fälle war der intellektuelle Status nicht bekannt. Die Rate von Autismus-Spektrum-Störungen bei gleichzeitiger geistiger Behinderung verdoppelte sich zwischen 2000 und 2016. Und bei Diagnosen ohne geistige Behinderung verfünffachte sie sich sogar.

Sven Bölte, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Stockholm, findet vor allem den hohen Anstieg an Diagnosen mit geistiger Behinderung erstaunlich: "Seit dem Jahr 2005 zeigt sich eigentlich eher einen Trend nach unten bei Autismus mit gleichzeitiger Intelligenzminderung. Denn in der Schwangerschaft wird weniger geraucht, weniger Alkohol getrunken, weniger Medikamente werden eingenommen, und es gibt viel weniger Gifte in der Umwelt. Solche Milieufaktoren könnten eine Rolle spielen als biologische Trigger. Das kann aus der Studie jedoch nicht herausgelesen werden."

Wie bereits früher oft beobachtet wurde, traten bei der aktuellen Studie Autismus-Spektrum-Störungen häufiger bei Buben auf als bei Mädchen. Sie betrafen alle ethnischen Zugehörigkeiten. Jedoch fiel den Fachleuten Folgendes auf: Je höher das Einkommen der Eltern war, desto eher wurden bei Kindern Autismus-Spektrum-Störungen ohne kognitive Einschränkung diagnostiziert. Autistische Kinder mit kognitiven Einschränkungen lebten dagegen eher in unterversorgten, armen Gemeinden.

Gründe nicht gänzlich erforscht

Allerdings gibt es einige Ungenauigkeiten der Studie, wie Sanna Stroth, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Marburg, erklärt: "Um diese Daten einordnen und interpretieren zu können, muss man wissen, wie sie zustande kommen. Alle zwei Jahre werden in den USA verfügbare Informationen aus Krankenakten, Schulakten und sonstigen Dokumenten zusammengetragen. Die betreffenden Individuen werden nicht klinisch untersucht. Klinische Validierungsstudien haben gezeigt, dass mehr als 20 Prozent der aus der Aktenlage erfassten Fälle gar keinen Autismus beziehungsweise die Diagnose haben.

Dass weltweit immer mehr Autismus-Spektrum-Störungen gemeldet werden, ist jedoch unbestritten. Über die Gründe wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. In erster Linie dürften die erhöhte Aufmerksamkeit, verbesserte Diagnoseverfahren und genauere Definitionen für die steigenden Zahlen verantwortlich sein. Die genaue Ursache für Autismus ist bislang nicht erforscht. Genetische Faktoren dürften aber eine entscheidende Rolle spielen, wie auch Sven Bölte weiß: "Warum es zu Autismus kommt, wissen wir im Einzelfall selten. Klar ist jedoch, Autismus ist hochgenetisch, aber auch biologische Umweltfaktoren können einwirken und mit Genen interagieren." Als widerlegt gelten heute Vermutungen, Autismus entstehe durch lieblose Erziehung oder durch Impfstoffe. Der Einfluss der Umwelt ist dagegen noch nicht ausreichend untersucht.

Nicht jede Änderung der Norm eine Krankheit

Und auch die Tatsache, dass Autismus-Spektrum-Störungen mittlerweile ebenso bei erwachsenen Personen diagnostiziert werden, könnte einen größeren Anstieg erklären. "Der Autismus hat mittlerweile die Erwachsenenpsychiatrie erschlossen, was früher nicht so war. Auch wird heute früher eine Diagnose gestellt als damals. In Schweden werden zum Beispiel ADHS und Autismus zusammen diagnostiziert," sagt Bölte, und auch Sanna Stroth sieht in der immer höher werdenden Aufmerksamkeit diesem Thema gegenüber mit einen Grund für vermehrte Diagnosen: "Die zunehmende Sensibilisierung hat einen Einfluss auf die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten durch die Bevölkerung, vor allem von besorgten Eltern. Gleichzeitig haben sich die diagnostischen Kriterien erweitert, sodass auch mildere Formen von Autismus ohne Intelligenzminderung häufiger diagnostiziert werden."

Sehr überraschend sind für Sven Bölte die Zahlen der Studie nicht, er fasst zusammen: "Grundsätzlich bin ich wegen der Entwicklung der Fallzahlen nicht schockiert. Wichtig ist zu verstehen, was eigentlich passiert. Autismus wurde lange als Krankheit verstanden. Und ja, Autismus geht einher mit einem erhöhten Risiko für psychische Probleme und bestimmte Erkrankungen. Aber es gibt auch vollkommen gesunde Autisten. Wir sprechen heute viel von Diversität. Und im Fall von Autismus sprechen wir von Neurodiversität. Gemeint ist die Tatsache, dass es auch in der Neurologie eine Vielfalt gibt und nicht jede Änderung der Norm eine Krankheit ist." (Jasmin Altrock, 27.01.2023)