Notwendige Wortentwendung, im Gedenken an den Auschwitz-Überlebenden Heinrich Sussmann (1904–1986): Sophie Lillies und Arye Wachsmuths Installation "Endsieger sind dennoch wir" (2021).

Foto: Jüdisches Museum Wien

Auf dem T-Shirt des lächelnden Auschwitz-Überlebenden Adolek Kohn steht, etwa in Brusthöhe, das entscheidende Wort: "Survivor". Kohn schwingt in der Videoperformance Dancing Auschwitz (2010) zu Gloria Gaynors I Will Survive freudig das Tanzbein.

Die für viele befremdliche Videoarbeit der australischen Künstlerin Jane Korman soll eine "neuere", womöglich unbefangenere Form des Gedenkens dokumentieren. Sie bildet einen zentralen Blickfang im Wiener Jüdischen Museum, gerahmt von einer Unzahl entsetzter Kommentare und auch einigen zustimmenden Wortmeldungen ("Your family is dancing on the graves of millions of Jews …").

Die Themenausstellung 100 Missverständnisse über und unter Juden – sie läuft seit 30. November 2022 – enthält diesen, aber auch viele weitere Steine des Anstoßes. Die von Neo-Direktorin Barbara Staudinger gemeinsam mit Hannes Sulzenbacher kuratierte Schau unterzieht das Selbstverständnis heimischer Jüdinnen und Juden zweifellos einem Härtetest. Diskursiver soll das Jüdische Museum unter Staudinger werden, kritischer auch.

Bizarre Ansammlung

Der Stresstest ist unbedingt provokant gemeint – und zielt in alle Richtungen missgünstiger Nachrede, denen sich jüdische Lebensart seit Jahrhunderten ausgesetzt sieht. Nun ist die denkwürdige, teils auch bizarre Ansammlung von Klischeefundstücken selbst zum Zankapfel unter jüdischen Kommentatorinnen geworden. Ben Segenreich, langjähriger Israel-Korrespondent, hatte, wie er in einem Presse-Gastkommentar ausführte, durch den Besuch der Ausstellung "ständig Stöße vor den Kopf" erhalten.

Der Tenor seiner Polemik, der sich bald Stimmen wie die von Sandra Kreisler oder Erwin Javor, Herausgeber des Nahost-Thinktanks Mena-Watch, anschlossen: Die Schau "schwurble, verzerre und verwirre". Sie reproduziere ohne Not einige besonders hässliche Gemeinplätze des längst nicht ausgerotteten Antisemitismus. Vorurteile würden "nicht ausgeräumt, sondern bestenfalls belächelt" (Kreisler).

Auch der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, hat in einem Brief an Staudinger die Ausstellung kritisiert: Sie verstärke "problematische Stereotypen und Aussagen", "anstatt sie zu entkräften und einzuordnen".

Aufgenommen haben die Ausstellungsmacher in der Tat Stereotype. Zu sehen sind Aneignungen jüdischer Kultur und Lebensart. Viele der über "die Juden" in Umlauf befindlichen Vorurteile finden sich in 100 Missverständnisse wieder, als Witz verkleidet oder, wie im Falle der Silikonhaut von Adolf Hitler, zum Bettvorleger gemacht (siehe Boaz Arads Installation Hitler Rug, 2007). Ein Skinhead glänzt via Schnappschuss mit einer provokanten Aufschrift: "Judenfreund". Wobei der notorische Reichsadler – mit Davidstern statt Hakenkreuz – sich das Peace-Zeichen gekrallt hat.

Ausschließlich jüdische Künstlerinnen, Satiriker, Provokateure haben die Zuschreibungen der "anderen" aufgenommen. Sie haben sie in Kunsthandwerk verwandelt, manchmal in atembenehmenden Kitsch. Zusätzlich soll eine Unzahl von Thesenanschlägen das vergiftete Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft abbilden. "Alle Juden sind kluge Denker bzw. Nobelpreisträger." – "Eine schöne Frau ist gefährlich, besonders wenn sie eine Jüdin ist." – "Jüdinnen und Juden sind überempfindlich." Die Stoßrichtung dieser Form von Aufklärung scheint klar. Oft kommt die philosemitische Verniedlichung die Juden ebenso teuer zu stehen wie unverblümter antisemitischer Hass.

Doch gerade mit dem Versuch, die Mär von der jüdischen "Überempfindlichkeit" zu widerlegen, schwächt die 100 Missverständnisse…-Schau ihre eigene Beweiskraft. Indem sie ein Sammelsurium kruder Artefakte angelegt haben, müssen die Macher die einzelnen Schaustücke in Kommentarprosa förmlich ersticken. In einem Land, in dem sich noch immer 85 Prozent der in ihm lebenden Jüdinnen und Juden "in ihrer Sicherheit bedroht fühlen" (Sandra Kreisler), besteht womöglich kein gesteigerter Bedarf an missverständlichen Bildwerken.

Kommentierungsnot

Das Paradoxon und empfindliche Problem der Ausstellung 100 Missverständnisse über und unter Juden besteht im Gestus der Selbstaufhebung. Sie schafft sich die Anlässe, derer es bedarf, um nur einige der widerlichsten Vorurteile über Juden zurechtzurücken, gleich selbst. Angehörige von Schulklassen sollen aus Anlass des Ausstellungsbesuches in Gelächter ausgebrochen sein. Ein jüdisches Museum sei "keine Heilanstalt gegen Antisemitismus", heißt es hingegen im Palais Eskeles.

Abhilfe soll geschaffen werden. Die Direktion lädt jetzt zu einem "Debateclub" ins Museum. Das Dilemma der Schau: Auf die ohnehin ausgehängten Kommentare müssen immer noch weiterführende Kommentare draufgepackt werden. Bis 4. Juni. Dann fällt vor den 100 Missverständnissen der Vorhang. (Ronald Pohl, 27.1.2023)