Wer nachts lange grübelt, sollte unbedingt aufstehen und den Geist mit einer anderen Aktivität entspannen, rät eine Expertin.

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Das Gedankenkarussell dreht sich und dreht sich. Beim Blick auf die Uhr dann die Erkenntnis: Schon wieder eine Stunde vergangen. Und man beginnt erneut zu rechnen: Wenn ich jetzt sofort einschlafe, kann ich noch vier Stunden und elf Minuten schlafen. Viele kennen dieses Gefühl. Hierzulande liegt jede vierte Person regelmäßig hellwach im Bett. Acht Prozent der Österreicher und Österreicherinnen leiden unter krankhafter Schlaflosigkeit.

Nicht einschlafen zu können ist eine Qual. Der Tag danach auch. Oft ist man nach einer unruhigen Nacht reizbar, launisch – und eben müde. Man kann sich nur schwer konzentrieren. Und schlechter oder zu wenig Schlaf macht auf Dauer krank, das zeigen zahlreiche Studien. Von Schlafproblemen Betroffene probieren deshalb allerhand aus, Tipps findet man viele. Gewichtsdecken, CBD-Tropfen, weniger Koffeinkonsum, abends keine schweren Mahlzeiten – manche richten schon den ganzen Tag auf das abendliche Zubettgehen aus. Wenngleich vereinzelte Tipps und Tricks manchen helfen können, ist das eigentlich der völlig verkehrte Ansatz, findet Schlafcoachin Melanie Pesendorfer. "Je mehr Druck auf den Schlaf ausgeübt wird, desto weniger gelingt er", sagt sie. Und oft liege die Ursache dafür nicht im späten Kaffeekonsum oder einer schweren Mahlzeit.

Gehirn in ständiger Anspannung

Die Ursachen können psychisch oder organisch sein, wie etwa eine hormonelle Umstellung. Die allermeisten kennen Einschlafprobleme allerdings wohl eher aus psychischen Gründen, also das nächtliche Grübeln à la Wie soll ich das alles schaffen, Wie konnte ich nur so blöd sein, Hätte ich doch mal lieber … Meistens drehen sich die nächtlichen Gedanken rund um Beziehungskrisen oder Stress im Job, zeigen Studien. Aber unabhängig von der Thematik ist das Anspannungslevel im Gehirn jedenfalls zu hoch. "Das Vagus-System muss auf Entspannung gepolt sein, damit wir das Wachsein verlassen und unsere Sinne abschalten können", erklärt Pesendorfer.

In Zeiten wie diesen sei das besonders schwierig. Viele sind mit dem Weltgeschehen und den damit einhergehenden Ängsten überfordert. Was Pesendorfer in der Praxis beobachtet, zeigt sich auch in Zahlen: Deutlich mehr Menschen als noch vor ein paar Jahren leiden seit Beginn der Corona-Pandemie an Ein- und Durchschlafproblemen.

Dazu kommen die Digitalisierung und unser verändertes Kommunikationsverhalten, sagt Pesendorfer: "Die Content-Flut, der wir tagtäglich ausgesetzt werden, reizt unsere Gehirnareale derartig, dass wir kaum mehr in einen entspannten Zustand kommen." Die Inhalte auf Social-Media-Apps wie Instagram oder Tiktok sind oft nur sehr kurz, Videos dauern wenige Sekunden. "Wir bekommen ständig neue Informationen, die immer wieder neue Emotionen bespielen. Dadurch ist unser Gehirn in einem so hohen Lern- und Aktivitätsmodus, dass wir danach mindestens eine Stunde bräuchten, um wieder runterzukommen", sagt die Schlafcoachin. Das heißt, idealerweise sollte man vorm Schlafengehen und direkt nach dem Aufwachen nicht zum Smartphone greifen.

Öfter in die Luft schauen und nichts tun

Für viele ist es allerdings unrealistisch, schon Stunden vorm Schlafengehen das Handy abzuschalten. Umso wichtiger seien mehrere kurze Pausen untertags, um unser Gehirn zu entlasten. Pesendorfer vergleicht das mit einem Pendel, das im Idealfall tagsüber zwischen Anspannung auf der einen und Entspannung auf der anderen Seite hin- und herpendelt. Das heißt: Wir brauchen regelmäßige Auszeiten – und zwar keine Pausen, in denen man durch Social Media scrollt, telefoniert, Nachrichten liest, sondern Pausen, in denen das Gehirn auf Entspannungsmodus schalten kann. Oder wie Pesendorfer sagt: "Wir brauchen viel mehr Momente, in denen wir in die Luft schauen und nichts tun." Nur dann kann das Pendel entspannt hin- und herschwingen. Aber die meisten haben das verlernt, glaubt die Expertin: "Dieses Pendel ist bei vielen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten defekt geworden, es bleibt tagsüber oft ständig auf der Seite der Anspannung." Und wer es tagsüber nicht übt, findet auch abends nicht mehr so leicht in den Entspannungsmodus.

Ohne Entspannung kein Schlaf

Langfristig sei also ein entschleunigter Lebensstil der Schlüssel zu besserem Schlaf. Aber was kann man kurzfristig tun, wenn man nachts mal wieder grübelnd wachliegt? Da hilft nur eines, sagt Pesendorfer: "Aufstehen und raus aus dem Schlafzimmer!"

Denn je mehr Druck man auf den Schlaf aufbaut, desto eher kommt man in einen roten Bereich, erklärt die Expertin und meint damit eines von drei Emotionsstadien, in die Fachleute unterteilen: den grünen Bereich, in dem man entspannt ist, den roten Bereich, in dem man gestresst ist und die neurologischen Kapazitäten knapp werden, und den schwarzen Bereich. "Dort greifen wir auf das Reptiliengehirn zurück und agieren nur noch aus unseren Urinstinkten heraus, das heißt Kampf, Flucht oder Starre", erklärt Pesendorfer.

Bleibt man trotz Einschlafproblemen weiter im Bett liegen, lässt die Gedanken kreisen und wälzt Probleme, kommt man irgendwann in den schwarzen Bereich. "Und dann geht gar nichts mehr." Man liegt stundenlang wach, denn vom schwarzen wieder zurück in den grünen Bereich ist ein weiter Weg. Deshalb sei das Wichtigste: aufstehen und etwas anderes tun, um den Geist zu entspannen.

Was das sein kann, ist individuell. "Jeder funktioniert neurologisch ein bisschen anders", stellt Pesendorfer klar. Visuellen, logischen Typen hilft es womöglich, die Gedanken aufzuschreiben oder eine To-do-Liste für den nächsten Tag zu machen, um die Gedanken vom Kopf raus auf das Papier zu bekommen. Auditive Typen lauschen vielleicht lieber einem Podcast oder entspannenden Naturgeräuschen. Haptische Typen könnten warm duschen gehen oder ein Haustier streicheln, gustatorische Typen noch eine Kleinigkeit essen oder eine Tasse Tee trinken. "Wichtig ist, mit einer anderen Aktivität in eine Entspannung zu kommen, dann geht's mit dem Einschlafen in der Regel auch schnell", rät die Expertin.

Außer – und das kennen wohl auch viele – wenn man kurz vorm Einschlafen doch noch einmal hochschreckt. In der Fachsprache heißen diese Schlafzuckungen auch Einschlafmyoklonien. Dazu kommt es, wenn der Körper vom Wach- in den Schlafzustand übergeht und das in verschiedenen Körperzonen unterschiedlich schnell passiert. Dann kann es sein, dass die Gehirnareale schon im Dämmerzustand sind, gewisse Muskelareale allerdings noch nicht. "Dann kommt es zu einer Entladung der Muskeln, man zuckt und ist plötzlich wieder hellwach", erklärt Pesendorfer. Zumindest hat man das Gefühl, dann wieder ganz wach zu sein, in der Regel kann man nach solchen Einschlafmyoklonien allerdings wieder rasch einschlafen – dann aber wirklich. (Magdalena Pötsch, 31.1.2023)