Im Gastkommentar verteidigt der US-Historiker David N. Myers die aktuelle Ausstellung im Jüdischen Museum Wien. Diese biete eine "Bandbreite an Perspektiven, kombiniert mit einer gesunden Portion Chuzpe".

Die aktuelle Ausstellung im Jüdischen Museum Wien thematisiert Stereotype und Klischees. Das stößt nicht nur auf Zustimmung.
Foto: Ouriel Morgensztern/Jüdisches Museum Wien
Auch dieses Bild von Cary Leibowitz ist zu sehen.
Foto: Cary Leibowitz / The Artist New Directions

Bei einem kürzlichen Besuch in Wien anlässlich einer vom Kreisky-Forum gesponserten Konferenz hatte ich die Gelegenheit, die zum Nachdenken anregende Ausstellung 100 Missverständnisse über und unter Juden im Jüdischen Museum Wien zu sehen. Ich musste mich fragen, was Bruno Kreisky wohl von dieser Ausstellung gehalten hätte. Schließlich war er selbst eine wandelnde Verkörperung von Missverständnissen, die sich über Stereotype hinwegsetzte. Ein in Wien geborener Jude, der nach dem "Anschluss" aus der Stadt floh und zurückkehrte. Ein Mann, der zum Regierungschef jenes Landes wurde, das ihn auswies. Ein Jude jener Generation, für die Zionismus und die Unterstützung Israels selbstverständlich waren, der sich jedoch durch sein Eintreten für die palästinensische Sache auszeichnete.

Als jemand, der sich selbst über Stereotype hinwegsetzte, hätte Kreisky seine Freude an der Ausstellung gehabt. 100 Installationen stellen die Sichtweise auf Juden infrage – als einheitlich kluge, gebrechliche, überzeugte Anhänger Israels oder von einer tragischen Vergangenheit geprägt. In der Tat machen Juden nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung aus. Sie stellen eine bemerkenswert vielfältige Gruppe von Individuen dar, was ihre religiösen, kulturellen und politischen Sensibilitäten angeht. Das einzige Stereotyp, das unanfechtbar zutreffend sein könnte, ist der Ausdruck: "zwei Juden, drei Meinungen".

Stereotype entkräften

Zugleich dürfte Kreisky von Teilen der 100 Missverständnisse überrascht worden sein. Eine Arbeit, die darauf abzielt, Missverständnisse aufzuzeigen und Stereotype zu entkräften, ist per definitionem beunruhigend. Schließlich ist es die Aufgabe der Kunst, uns aus unserer Komfortzone herauszuführen und zu zwingen, unsere eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Das gilt übrigens für Juden und Nichtjuden gleichermaßen, denn wie die Ausstellung zeigt, werden Missverständnisse über Juden sowohl von Nichtjuden als auch von Juden fabriziert.

"Wenn die Betrachter sich unwohl fühlen oder schockiert sind, funktioniert die Ausstellung so, wie sie sollte."

Die Ausstellung sieht kontroversen Themen direkt in die Augen. Das für mich erschütterndste der Exponate war das bemerkenswerte Video der australischen Künstlerin Jane Korman aus dem Jahr 2010 mit dem Titel Dancing Auschwitz. Es zeigt sie, ihren Vater (einen Holocaust-Überlebenden) und ihre drei Kinder, die zu Gloria Gaynors Disco-Hit I Will Survive an Orten des NS-Völkermords tanzen. Als ich dieses Video zum ersten Mal sah, war ich schockiert. Es durchbricht die Sichtweise, dass Auschwitz heilig ist, und entlarvt seine grausame Profanität auf höchst komische Weise. Gleichzeitig vermittelte das Bild der jüdischen Mehrgenerationenfamilie, die in Auschwitz tanzt, für mich als Jude ein aufrichtiges Gefühl des Triumphs über die mörderische Hybris der Nazis. Um ehrlich zu sein, ist dies ein Kunstwerk, das nur funktionieren kann, weil es von Juden produziert wurde. Die Lizenz zu solcher Satire und humoristischen Herangehensweise haben nur Mitglieder einer Ingroup, die Außenstehende nicht haben, umso mehr im Falle des Holocaust.

Grenzüberschreitend

Dancing Auschwitz ist grenzüberschreitend; das gilt auch für viele andere Exponate. Wenn die Betrachter sich unwohl fühlen oder schockiert sind, funktioniert die Ausstellung so, wie sie sollte. Im Kern geht es um den ausgesprochen menschlichen Impuls, ein gewisses Maß an Normalisierung zu erreichen, was den Juden während ihrer langen Geschichte, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, verwehrt wurde.

In einer breiteren Palette von Bildern spiegelt 100 Missverständnisse den Impuls, Juden als Objekte anthropologischer Faszination auf ein Podest zu stellen. Kein Thema ist tabu. Ist dieser Geist des Ikonoklasmus zu transgressiv für ein nüchternes und korrektes Wien, das die Juden als Teil seiner Nachkriegsbuße verehren will? Höchstwahrscheinlich, ja.

Anderes Wien

Aber es gibt ein anderes Wien. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass kultureller Ikonoklasmus und Innovation im jüdischen Wien beheimatet sind. Es gibt die bekannte Liste jüdischer Innovatoren des späten 19. und 20. Jahrhunderts, darunter Mahler, Schönberg, Schnitzler und natürlich Freud. Wien war auch die Heimat des boshaft-satirischen Karl Kraus und seiner Zeitschrift Die Fackel, die kein Thema aussparte.

100 Missverständnisse erinnert an die Tradition des Bildersturms und der Innovation, für die Wien einst berühmt war. Die Ausstellung hat Kontroversen ausgelöst, da sie sowohl anspruchsvolle Bilder als auch abweichende jüdische Meinungen zeigt. Aber gerade diese Bandbreite an Perspektiven, kombiniert mit einer gesunden Portion Chuzpe, fängt Juden so ein, wie sie leben, in ihrer mannigfaltigen Vielfalt, und nicht in eindimensionaler, monochromer und idealisierter Form, wie sie uns oft im Tod erscheinen. Wien ist ein geeigneter und notwendiger Schauplatz für diese kühne Erkundung des Mythos und der Realität des Juden. Wenn nicht hier, wo dann? (David N. Myers, 27.1.2023)