Edward Mosberg kehrte regelmäßig nach Mauthausen zurück, um seine Geschichte zu erzählen. Er starb im Vorjahr.

Foto: Werner Dedl

Als die 322. Infanteriedivision der 60. Armee der I. Ukrainischen Front am 27. Jänner des Jahres 1945 das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreite, standen den Soldaten nur noch 7600 Überlebende gegenüber. In den Jahren zuvor waren mehr als 1,1 Millionen Menschen an dem Ort der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie ermordet worden.

Heute, 78 Jahre später, sind Orte wie Auschwitz-Birkenau ein Synonym für den Holocaust. Gleichzeitig sind sie zu Lern- und Gedenkstätten geworden. Sie sind eine stete Erinnerung an das Versprechen "Niemals wieder".

Doch die Gedenkpraxis unterliegt einem stetigen Wandel. Heute geschieht Vermittlung anders als noch vor wenigen Jahren. So wurden die großen Ausstellungen beispielsweise in der Gedenkstätte Mauthausen (2013) oder der Österreich-Teil (2021) der Gedenkstätte Auschwitz neu gestaltet. Zudem gibt es immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die etwa in Schulen gehen und mit Jugendlichen ihre Geschichten teilen.

Das wirft die Frage auf: Besteht ohne die lebendige Erinnerungserzählung die Gefahr, dass der Holocaust an Schrecken verliert und zu einem bloßen Teil der Geschichte verkommt?

Die nächste Generation

Über das Programm Erinnern.at der Agentur für Bildung und Internationalisierung (OeAD) besuchen aktuell noch acht bis neun Zeitzeuginnen und Zeitzeugen unterschiedlicher Verfolgtengruppen Schulen – vor allem in Wien und im Großraum der Bundeshauptstadt, aber auch in Kärnten. "Der letzte Zeitzeuge, der in den vergangenen Jahren noch in ganz Österreich sehr aktiv war, war Karl Pfeifer", erzählt Julia Demmer, Leiterin des Zeitzeugenprogramms. Pfeifer ist am 6. Jänner mit 94 Jahren verstorben.

Nun toure nur noch Stefan Horvath für das Projekt durch ganz Österreich. Allerdings: Er gehört bereits der sogenannten "zweiten Generation" an. Das heißt: Seine Eltern überlebten Auschwitz, er wurde erst nach der Befreiung im Jahr 1949 in einer Romasiedlung in Oberwart geboren. Wie Horvath sollen künftig auch andere Nachkommen ihre Geschichte erzählen. Erinnern.at will heuer mit einer wissenschaftlich begleiteten Pilotphase starten: Gespräche von Jugendlichen und Nachkommen.

Virtuelle Erzählungen

Auch weitere Ansätze gibt es, die auf den Umstand reagieren, dass die Überlebenden immer weniger werden. So arbeitet Erinnern.at etwa schon seit vielen Jahren mit bestehenden oder eigens aufgezeichneten Videointerviews. Auf didaktisch aufbereiteten Lernwebsites werden zusätzliche Infos wie biografische Texte zur Verfügung gestellt. "Am Einzelschicksal kann exemplarisch etwas über das große Verbrechen gezeigt und vermittelt werden", sagt Demmer. Und: Eine lebensgeschichtliche Erzählung sei manchmal leichter zugänglich, gehe nahe, ins Ohr, fördere meist Anteilnahme und Interesse. "Und macht damit eine – wenn auch vielleicht kleine – Türe zu einem breiteren und differenzierteren Wissen über die NS-Verbrechen auf", sagt Demmer.

Über die Gespräche mit den Kindern und Enkeln der Überlebenden sollen aber auch neue Themen in den Unterricht geholt werden, wie etwa das Aufwachsen in Österreich nach 1945, im Land der Täterinnen und Täter, oder der anhaltende Antisemitismus. Denn Nachkommen sollen nicht nur die Geschichte der Eltern erzählen, sondern auch ihre eigene Lebensgeschichte.

Orte der Erzählung

"Wenn es die Zeitzeugen nicht mehr gibt, dann liegt es an uns, dass wir ihre Geschichten erzählen – mittels Biografien, Interviews, Objekten, die sie uns überlassen haben", ist Barbara Glück, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, überzeugt. "Es gibt die Orte wie die Gedenkstätte Mauthausen, an denen die Geschichte präsent ist. Es ist auch unsere Aufgabe, dass sie präsent bleibt." Man habe zentrale Leitideen, die die Vermittlungsarbeit – sei es in den Rundgängen oder in der Ausstellung – begleiten würden. Glück: "Ein ganz wichtiges Element ist es, die Perspektive der Opfer in den Vordergrund zu stellen – ihr entsprechend Raum zu geben." Neben historischen Fakten müsse man den würdigen und pietätvollen Umgang mit den Opfern wahren.

Ein Schlüssel sei die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die "Kernidee" laut Glück: "Dass sich Besucher die Frage stellen: ‚Was hat das mit mir zu tun?‘" So habe jeder einen persönlichen Zugang zu dem Thema.

Auf Schockmomente verzichtet man mittlerweile in den Ausstellungen. "Uns ist bewusst, dass der Ort und seine Geschichte selbst für viele Besucher emotional schwierig sein kann", sagt Glück. Eine "emotionale Überwältigung" verhindere oft eine kritische Reflexion. "Wenn man in den Bereich der Tötungsräume kommt, hat man entweder durch den Rundgang oder die vorgeschaltete Ausstellung eine Art kognitives Scharnier – eine Vorbereitung auf das, was man nachher sieht. Und plötzlich ist nicht mehr relevant, dass man die Gaskammer nicht mehr betreten kann."

Beteiligung in Entwicklung

Ein Beispiel, wie Gedenken neu gedacht wird, ist der Entwicklungsprozess rund um das ehemalige KZ Gusen. Die Schauplätze der Nazi-Gräuel in St. Georgen und Langenstein schienen über Jahrzehnte auf der Gedenklandkarte kaum auf. Spät richteten Kunstprojekte wie der "Audioweg Gusen" des in St. Georgen aufgewachsenen und in Berlin lebenden Künstlers Christoph Mayer die Scheinwerfer auf das unsichtbare Lager.

Im Mai 2021 kaufte die Republik Teile des ehemaligen Areals. In der Entwicklung der Gedenkstätte geht man einen völlig neuen Weg: Statt auf ein fertiges Konzept setzt man auf Beteiligung. In einer ersten Phase konnten unmittelbare Anrainer, der Bürgermeister sowie Vertreter der nationalen und internationalen Opferverbände Bedürfnisse äußern. (Oona Kroisleitner, Markus Rohrhofer, 27.1.2023)