Der Fall Tina wurde zum Symbol für übersehene Kinderrechte im Asylverfahren. Die Abschiebung der damals Zwölfjährigen wurde später für rechtswidrig befunden.

foto: robert newald

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat eine für Kinder in Asylverfahren wichtige Entscheidung gefällt; eine, der der Verfassungsexperte Bernd-Christian Funk "Signalwirkung" bescheidet.

Im Fall einer Familie aus Kasachstan, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die einen Rückkehrbescheid erhielt, habe das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) verabsäumt, ausreichend zu prüfen, wie es den Kindern in Österreich geht – und was es für sie bedeuten würde, nach Kasachstan zurückzumüssen, urteilte das Höchstgericht.

Was heißt das genau? Welche Folgen hat das für Härtefälle, wie wir sie etwa von der aus Georgien stammenden Wiener Schülerin Tina kennen?

Frage: Was hat der Verfassungsgerichtshof konkret entschieden?

Antwort: Laut dem Höchstgericht wurde das verfassungsgesetzlich verbriefte Recht auf Gleichbehandlung mit anderen Fremden der Beschwerdeführenden – eine Mutter mit zwei Kindern – verletzt. Bei der Prüfung, ob eine Ausweisung das Kindeswohl gefährden würde, habe das BVwG unterlassen, die Kinder zu befragen – oder aber ihre Mutter ausführlich zur Lage der Kinder. Das Höchstgericht zählt dabei auf, was hätte gefragt werden müssen.

Frage: Wie lauten die Fragen?

Antwort: Es sind deren sechs: Wo die Kinder geboren und wo sie aufgewachsen sind? Seit wann sie im Österreich leben? Ob sie die Sprache des Herkunftsstaates beherrschen? Ob sie schon im Herkunftsstaat gelebt haben? Ob und inwieweit sie in Österreich die Schule besuchen und welchen sozialen Aktivitäten sie hier nachgehen? Sowie ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden?

Frage: Wie ist das im Fall der betroffenen Familie?

Antwort: Ein Kind ist in Kasachstan, das zweite ist schon in Österreich auf die Welt gekommen. Laut der Beschwerde des fallführenden Rechtsanwaltsanwärters Norbert Kittenberger aus der Kanzlei der Anwältin Julia Ecker beim BVwG sprechen die Kinder "herausragend gut Hochdeutsch und auch Dialekt". Sie gehen hier in die Schule und haben viele Freunde. Anders als das BVwG behaupte, hätten die Kinder ihren Vater seit mehr als neun Jahren nicht mehr gesehen. Der Mann lebe in Russland.

Frage: Warum ist die Familie in Österreich, und welche Folgen hat nun die VfGH-Entscheidung für sie?

Antwort: Die Mutter hatte Ende 2012 für sich und die Kinder Asyl beantragt. 2018 wurde der Antrag vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) abgelehnt, nach der Berufung wies das BvWG die Sache wegen fehlerhafter Ermittlungen mehrmals an das BFA zurück. Im April 2022 wurde auch die Berufung abgelehnt. Abschiebeversuche gab es bis dato nicht. Nach dem jetzigen VfGH-Spruch wird der Fall an das BVwG zurückverwiesen, das von neuem entscheiden muss.

Frage: Was sagen Fachleute zu der VfGH-Entscheidung?

Antwort: Laut dem Verfassungsexperten Funk bestärkt der Entscheid zusätzlich die bisherige Linie des VfGH in Bezug auf Kindeswohlfragen in Bleibeverfahren. Das Höchstgericht beziehe sich dabei auf Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der jetzige Spruch habe aber "Signalwirkung". Der beschwerdeführende Jurist Kittenberger plädiert auf Grundlage der Judikatur für eine gesetzliche Anpassung. Der vom VfGH definierte Fragekatalog zur Lage von Kindern solle ins Asylgesetz hineingearbeitet werden.

Frage: Ging es im Fall Tina nicht auch genau um solche Fragen?

Antwort: Ja. Die damals Zwölfjährige wurde im Jänner 2021 mit ihrer fünfjährigen Schwester und ihrer Mutter nach Georgien abgeschoben – begleitet von Protesten der Zivilgesellschaft und einem türkis-grünen Koalitionsstreit. Mehr als ein Jahr später befand das BVwG die Abschiebung für rechtswidrig. Das Gericht stellte das Kindeswohl und die soziale Verwurzlung über das Verhalten der Mutter, die sich mehrfach einer Abschiebung entzogen hatte. Da war die Gymnasiastin Tina längst mit einem Schülervisum nach Österreich zurückgekehrt.

Frage: Welche politischen Reaktionen folgten auf diesen Fall?

Antwort: Die Proteste setzten vor allem die Grünen unter Druck. Im Ressort von Justizministerin Alma Zadić wurde deshalb die Kindeswohlkommission um Irmgard Griss eingerichtet. Die ehemalige Neos-Politikerin und Höchstrichterin monierte nach einer umfangreicheren Analyse der Kinderrechte, dass deren Einhaltung oft Glückssache sei – also vom zuständigen Richter oder Referenten abhängig. Griss mahnte daher klare Richtlinien für das Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen und das Bundesverwaltungsgericht ein.

Frage: Und was ist dann passiert?

Antwort: Die Justizministerin veröffentlichte nach Empfehlung der Kommission einen Kindeswohlleitfaden im Asyl- und Fremdenrecht für das BVwG. Doch laut Griss braucht es mehr. Ihr fehlt die unabhängige Kontrolle. "Kinderschutzkonzepte sind schön und gut", sagt Griss zum STANDARD. "Aber wir bräuchten für die gesamte Vollziehung der Gesetze eben auch ein ständiges Monitoring." (Irene Brickner, Jan Michael Marchart, 27.1.2023)