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Arbeit bis ins höhere Alter: Was in Zeiten des Fachkräftemangels als Idealbild gilt, werde in der Realität hintertrieben, kritisiert die SPÖ. "Die Regierung zwingt die Menschen förmlich in die Frühpension", lautet der Vorwurf.

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SPÖ und Gewerkschaft laufen Sturm, die sozialdemokratischen Pensionistenvertreter sowieso. Aber auch Ingrid Korosec, Seniorenchefin der Kanzlerpartei ÖVP, gibt auf STANDARD-Anfrage die klare Parole aus: "Weg damit!"

Im Kreuzfeuer steht eine Regelung, die in der Debatte als "Aliquotierung" bekannt ist. Demnach bekommen Pensionistinnen und Pensionisten die gesetzlich vorgesehene Inflationsabgeltung für ihr erstes Jahr im Ruhestand lediglich gestaffelt nach Eintrittsdatum ausbezahlt. Nur wer im Jänner geht, hat Anspruch auf die volle Erhöhung. Mit jedem Monat später schrumpft das Plus um zehn Prozent. Wer im November oder Dezember eintritt, schaut ganz durch die Finger.

Was in normalen Zeiten verschmerzbar sein mag, schlägt sich in Zeiten hoher Teuerung verschärft nieder. Die Kritiker wissen das mit Beispielrechnungen zu belegen.

Eine solche stammt aus dem SPÖ-Klub und vergleicht zwei fiktive Männer mit einer recht durchschnittlichen Angestelltenpension von 2.655 Euro brutto pro Monat. Bei einer angenommenen Inflationsabgeltung von 8,5 Prozent steigt jener, der im heurigen Jänner mit 65 Jahren in Pension geht, bereits im ersten Folgejahr um 3.160 Euro besser aus als jener, der erst im November dran ist. Weil alle künftigen Erhöhungen auf dem Vorjahr aufbauen, wird der Nachteil das ganze restliche Leben mitgeschleppt. Nach 18,4 Jahren hat der Novemberpensionist laut der Rechnung um 73.537 Euro weniger an Pension bezogen als der im Jänner gegangene Mann.

Frühere Pensionierung

Diese "Geburtslotterie" sei leider nicht die einzige fatale Folge, sagt SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch. Die Aliquotierung hintertreibe auch das propagierte Ziel, die Menschen länger im Arbeitsleben zu halten: "Für Zehntausende wird es sich 2023 erstmals lohnen, früher in Pension zu gehen."

Wieder haben die Sozialdemokraten eine Rechnung parat, abermals geht es um einen männlichen Angestellten mit einer Pension von 2.655 Euro pro Monat. Angenommen wird, dass er im November 2023 das reguläre Pensionsantrittsalter von 65 Jahren erreicht. Tritt der Betroffene zu diesem Datum in den Ruhestand, steigt er aber bis 2042 gerechnet um 17.000 Euro schlechter aus, als wenn er bereits neun Monate früher, im Februar, gegangen wäre. Die verpasste Inflationsabgeltung wiegt die für die Frühpension fälligen Abschläge bei weitem auf.

"Mit ihrer Untätigkeit zwingt die Regierung die Menschen förmlich in Frühpension", kritisiert Muchitsch. Bleibe die Aliquotierung bestehen, müsse man allen in diesem Jahr Betroffenen raten, möglichst rasch in Pension zu gehen: "Sonst werden ihnen zehntausende Euro geraubt."

Ein Gegencheck bei der Pensionsversicherungsanstalt ergibt: Die SPÖ-Berechnungen dürften korrekt sein, und auch das Sozialministerium widerspricht in der Sache nicht. Man sei sich dessen bewusst, dass die Aliquotierung bei hohen Inflationsraten zu "Benachteiligungen" führen kann, und werde sich um eine Lösung bemühen, heißt es aus dem Büro von Minister Johannes Rauch (Grüne). Kalt ließ den Minister die Kritik schon im laufenden Jahr nicht: Für die Pensionsanpassung vom heurigen Jänner hatte die Regierung zur "Abmilderung" verfügt, dass jeder Neupensionist zumindest den halben Inflationsausgleich erhält.

Doch alles andere als ein vollständiger Teuerungsausgleich für alle im ersten Jahr ist aus Sicht der Kritiker zu wenig. Dass man in der Aliquotierung doch eine gewisse Logik erkennen könne, weil die Inflation damit eben nur für die tatsächliche Zeit in der Pension abgegolten werde, kann Arbeiterkammer-Experte Wolfgang Panhölzl kein bisschen nachvollziehen. Es gehe ja nicht nur um das eine Jahr, sondern um die Wertsicherung für die Zukunft: "Auch Lohnerhöhungen werden unmittelbar wirksam. Da wäre eine Aliquotierung undenkbar."

Mehrfaches Hin und Her

Es gab allerdings Zeiten, da wurde die Gerechtigkeitsfrage auch umgekehrt gestellt. Es sei nicht einsichtig, dass jemand, der im November oder Dezember in Pension geht, bereits im folgenden Jänner die volle Inflationsabgeltung erhalte, hieß es da – umso mehr, als die steigenden Kosten für die Altersversorgung ohnehin gebremst gehörten.

In diesem Geist hat die schwarz-blaue Regierung unter Wolfgang Schüssel 2003 eine Wartefrist eingeführt: Die erste Pensionserhöhung wurde fortan erst im übernächsten Jahr gewährt. Pikanterweise waren es in der Folge die Seniorenvertreter von SPÖ und ÖVP, die zur Linderung die nun von ihnen bekämpfte Aliquotierung forderten.

Beim freien Spiel der Kräfte vor der Nationalratswahl 2019 setzte eine Mehrheit im Parlament vorübergehend den vollständigen Teuerungsausgleich bereits im ersten Jahr durch, ehe die türkis-grüne Regierung schließlich die Geld sparende Aliquotierung beschloss. Unter diesen politischen Vorzeichen mutierten die sozialdemokratischen Pensionistenvertreter jäh zu Gegnern der Idee. Der ÖVP-Seniorenbund zog unter dem Eindruck der Rekordinflation schließlich nach. (Gerald John, 30.1.2023)