Der Wintereinbruch hat heuer auf sich warten lassen. Nun ist es endlich so weit: Die Gipfel und Steilhänge sind in kräftiges Weiß getaucht. Der Mittwoch war vielerorts der erste Schönwettertag nach stürmischen und ergiebigen Schneefällen. Doch diese Tage gelten als besonders unfallträchtig. Zahlreiche Menschen wurden in den vergangenen Tagen bei Lawinenabgängen verletzt.

In Tirol erlag ein 28-Jähriger am Mittwochabend in der Innsbrucker Klinik seinen schweren Verletzungen. Der junge Mann war allein im Gemeindegebiet von Kartitsch in Osttirol unterwegs, als ein anderer Tourengeher ein Schneebrett auslöste. Der 28-Jährige wurde verschüttet – und blieb es offenbar stundenlang. Die Suche gestaltete sich schwierig. Es war nebelig, und die Bergretter mussten zwischenzeitlich wieder aus dem Tal herausgeflogen werden.

Schönwettertage nach Schneefällen gelten als besonders lawinenunfallträchtig. Hier ein Bild eines Lawinenabgangs im Tiroler Wipptal 2022.
Foto: Daniel Liebl/APA

Lawinenabgänge hatten am Mittwochnachmittag auch in Kärnten und der Steiermark drei Verletzte gefordert. Ein 58-Jähriger und ein 14-Jähriger wurden am Goldeck bei Spittal an der Drau teilweise verschüttet. Im Salzburger Pongau löste ein 29-jähriger Kanadier eine Lawine aus.

Tückische Schneebrettlawinen

Die meisten Todesopfer gehen auf das Konto sogenannter Schneebrettlawinen, sagt Benjamin Stern, Experte des Österreichischen Alpenvereins (ÖAV), zum STANDARD. Sie sind für 90 Prozent der tödlichen Lawinenunfälle verantwortlich. Laut dem Kuratorium für Alpine Sicherheit (ÖKAS) sind in Österreich im Schnitt 21 Lawinentote pro Jahr zu verzeichnen – die Zahl bezieht sich auf den Zeitraum von 2012 bis 2021.

Damit ein Schneebrett entsteht, brauche es eine Schwachschicht, eine gebundene Schicht, einen Hang mit einer Neigung von über 30 Grad und eine Zusatzbelastung, zählt Stern auf und schlussfolgert: "Die allermeisten Lawinen mit Todesfolge werden von Personen selbst ausgelöst."

"Ungünstiger" Winter aufgrund des wenigen Schnees

Umso wichtiger sei eine fundierte Aufklärung – und eine entsprechend gründliche Tourenplanung. Stern spricht von einem heurigen "ungünstigen Winter, was den Schneedeckenaufbau betrifft". Der Grund erscheine auf den ersten Eindruck "paradox": Es sei der wenige Schnee. "Speziell, wenn dann nach längerer Zeit wieder Schnee fällt, erhöht sich die Lawinengefahr von den einen auf den anderen Tag plötzlich massiv."

Das habe mit der eingangs angesprochenen Schwachschicht zu tun. Im Fachjargon spricht man von einem "Altschneeproblem" – da gleitet der Neuschnee auf einer alten, schwachen Schneeschicht ab.

"Das ist häufig eine Schicht aus sogenannten aufbauend umgewandelten Schneekristallen", erklärt Stern. Warmer Dampf vom Boden steigt durch die Schneeschicht auf und friert teilweise wieder an den Schneekristallen fest, sodass sich diese vergrößern und die Bindung zueinander verlieren. Je dünner die Schneeschicht, desto schneller geht dieser Prozess vonsttaten. Stern nennt ebenjenes Altschneeproblem eine "heimtückische Gefahr, die man von außen nicht erkennt".

Der Lawinenwarndienst könne dieses Problem allerdings "sehr gut vorhersehen". Auch in den vergangenen Tagen sei dies ausgewiesen worden. Die Empfehlung des Alpenvereins laute: "Bei einem ausgewiesenen Altschneeproblem sehr, sehr defensiv unterwegs sein."

"Stop or Go": Entscheidungsstrategie im freien Skiraum

Stern verweist auf die sogenannte "Stop or Go"-Methode, die der ÖAV lehrt. Diese Methode ist gewissermaßen eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für das Treffen guter Entscheidungen im freien Skiraum. Sie basiert auf der elementaren Reduktionsmethode von Werner Munter. Generell gilt: je höher die Lawinenwarnstufe, desto weniger steil darf das Gelände sein. Bei Lawinenwarnstufe 2 sollte man deshalb nur auf Hängen mit einer Neigung von maximal 40 Grad unterwegs sein, sich bei einem "Dreier" unter 35 Grad aufhalten und bei Stufe 4 gar im flacheren Gelände unter 30 Grad verweilen.

Grundsätzlich gilt: Je höher die Lawinenwarnstufe, desto weniger steil darf der Hang sein.
Foto: Johann Groder/EXPA/APA

Je höher die Lawinenwarnstufe, desto größer zudem der in Betracht gezogene Raum: Bei einem "Vierer" muss man demnach die gesamte Geländekammer im Auge behalten, bei einem "Zweier" den Bereich der Spur. Apropos: "Im Auge behalten reicht nicht aus", merkt Stern an. Die Hangneigung müsse man unbedingt im Zuge der Tourenplanung studieren, und nicht nur unterwegs abschätzen.

Künstliche Intelligenz hilft bei der Tourenplanung

Die Beurteilung des Lawinenrisikos ist sehr komplex und unterliegt zahlreichen Einflussfaktoren. So sollten nicht nur Hangneigung und Lawinenwarnstufe, sondern auch Wind und Wetter, Hangexposition, Schneefälle und die Bewaldung in der Planung berücksichtigt werden. Unterschiedliche digitale Helferchen wie die "Lawine Tirol"-App, die es mittlerweile seit zehn Jahren gibt, bieten niederschwellige Unterstützung.

Die App sei mittlerweile 130.000-mal heruntergeladen worden, hieß es jüngst bei einer Pressekonferenz in Innsbruck. Die Betreiberfirma geht davon aus, dass in der laufenden Wintersaison fünf Millionen Aufrufe gezählt werden. Man wolle laufend an der App arbeiten und das Angebot verbessern. Ab der nächsten Saison sind auch Push-Nachrichten geplant.

Relativ neu am Markt ist die Website "Skitourenguru", die eine automatisierte Lawinen-Risikobeurteilung für zahlreiche Touren im Alpenraum bietet. Auf Basis des digitalen Höhenmodells und aktuellen Lawinenlageberichts berechnet ein ausgeklügelter Algorithmus für jeden Punkt der Route das Lawinenrisiko. Ebenso werden Schlüsselstellen und Lawinenunfälle der vergangenen Jahre angezeigt.

Die Zahl der Skitourengeherinnen und Skitourengeher steigt kontinuierlich. Eine gründliche Vorbereitung ist essenziell.
Foto: Simon Rainer/APA

Die Werte der einzelnen Punkte werden daraufhin für die ganze Tour zu einem Risikoindikator zusammengefasst. Dieser zeigt, ähnlich einer Verkehrsampel, ob die Route ein eher geringes Risiko (grün), ein erhöhtes Risiko (orange) oder ein hohes Risiko (rot) aufweist. Die Berechnung erfolgt zweimal pro Tag, jeweils am Morgen und am Abend.

"Pieps", Schaufel, Sonde, Handy: Die Ausrüstung zählt

Nicht nur digitale Angebote, auch die Ausrüstung hat sich in den letzten Jahrzehnten verbessert. So trägt fast jeder, der heute im Gelände unterwegs ist, einen sogenannten "Pieps" mit sich. Ein solches LVS – die Abkürzung steht für Lawinenverschüttetensuchgerät – revolutionierte vor mehr als 50 Jahren die Suche nach verschütteten Lawinenopfern. Wesentliche Aufgabe eines LVS ist dabei erst einmal nicht, den später anrückenden Rettungskräften Hinweise zu geben. Vielmehr soll es sofort den anderen einer Gruppe anzeigen, wo jemand gerade verschüttet wurde. Je schneller die Kameradinnen und Kameraden ihn oder sie finden und ausgraben, desto besser.

"Grundsätzlich wird davon abgeraten, alleine auf Tour zu gehen", unterstreicht Martin Loitlesberger, Leiter des Alpindiensts im Innenministerium. Die "schnelle Suche durch Bergkolleginnen und -kollegen ist dadurch schlicht nicht möglich". Der STANDARD erreicht den Experten am Berg, im Hintergrund rauscht der Wind.

Eine Notfallausrüstung – dazu zählen neben dem LVS-Gerät auch Sonde, Schaufel, Erst-Hilfe-Set mit Rettungsdecke und Biwaksack und ein Handy – sei "jedenfalls auf Tour mitzuführen", betont Loitlesberger. Außerdem sei es wichtig, die Tourenplanung "immer wieder zu hinterfragen und die Route gegebenenfalls anzupassen".

Bisherige Bilanz

In der heurigen Wintersaison – also dem Zeitraum vom 1. November 2022 bis Donnerstag, 26. Jänner 2023 – sind in Österreich 23 Lawinenereignisse in Österreich erfasst worden. 43 Personen waren involviert. Zwölf der Beteiligten wurden verletzt, drei verloren ihr Leben – darunter jüngst auch besagter 28-Jähriger. (Maria Retter, 27.1.2023)