Wird als nächster Philip Roth gehandelt: Joshua Cohen.

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Der Campusroman ist eine eigene Gattung, im Kern romantisch, denn es steckt dahinter ja eine Idee von Bildung, die mit dem Leben mehr oder weniger zusammenfällt. Kluge Menschen haben auf dem Campus nicht weit zur Arbeit, aber auch nicht weit zur nächsten Affäre. So war es jedenfalls, bis die Machtverhältnisse auch in diesem Bereich genauer in den Blick genommen wurden. Inzwischen gibt es den Campusroman nur noch kritisch – oder aber historisch. Joshua Cohens Die Netanjahus zählt zur zweiten Sorte. Er spielt im Wesentlichen Ende der 1950er-Jahre in einem College in Upstate New York. Wobei das Wort "upstate" nur die "geografischen Analphabeten" verwenden, die in der Stadt New York leben. Die halten nämlich alles weiter oben für die tiefste Provinz.

Wo ist "Bibi"?

Ein Roman mit dem Titel Die Netanjahus weckt eigentlich andere Erwartungen, als man sie in einem Kaff namens Corbindale erfüllt sehen würde – der Name ist eine Verballhornung von Cornell, einer noblen Uni an der Ostküste. Es gibt schließlich einen sehr prominenten Netanjahu, der seit Jahren die Schlagzeilen der Weltblätter mit dominiert, den hartnäckigen Benjamin "Bibi" Netanjahu, der gerade schon wieder Premierminister in Israel geworden ist. Bei Die Netanjahus schwingt also sofort die Frage mit, ob und was das Buch mit Bibi zu tun hat, der 1959 zehn Jahre alt war, das kann man ja schnell nachschauen.

Damit ist man schon bei der ersten Pointe von Cohens Roman. Denn der handelt eben indirekt auch von dieser Erwartungshaltung, und er macht sich einen Spaß damit, sie einerseits zu erfüllen, andererseits ins Leere laufen zu lassen. Bei großen Figuren der Geschichte ist ja tendenziell alles historisch, und so dürfen wir einmal gespannt sein, ob da vielleicht ein prägendes Ereignis präsentiert wird, vielleicht sogar eine Urszene für den späteren Populisten, für den in den letzten dreißig Jahren wichtigsten Politiker des jüdischen Staates Israel.

Weiter Bogen

Cohen geht die Sache aber erst einmal in aller Ruhe an, das heißt, er lässt seinen Erzähler, einen Historiker namens Ruben Blum, weit ausholen. Ruben ist der einzige Jude in Corbindale, er ist auf Steuern spezialisiert ("Eine Geschichte Amerikas in zehn Steuern" ist eines seiner Bücher), er lebt mit Frau Edith und Tochter Judy ein halbwegs geruhsames Leben, das gelegentlich gestört wird, wenn Judy wegen ihrer Nase auf eine kosmetische Operation drängt (die sie dann, in einer krassen Szene, mehr oder weniger selbst vornimmt).

Ruben bekommt von seinem Chef einen Auftrag. Er soll sich um einen Mann kümmern, der zu einem Bewerbungsvortrag eingeladen wurde, einen Historiker aus Israel mit Spezialgebiet iberische Inquisition im Mittelalter. Dieser Ben-Zion Netanjahu taucht dann auch, mit Frau und drei Söhnen, tatsächlich auf, nachdem es allerlei akademische Vorgeplänkel dafür gab.

Joshua Cohen nützt diese Passagen auch, um relativ ausführlich eine Geschichte des rechten (revisionistischen) Zionismus zu erzählen, wie auch des Judentums auf der Iberischen Halbinsel, was einerseits das Spezialgebiet von Ben-Zion Netanjahu ist, andererseits von diesem nicht streng wissenschaftlich bearbeitet wird, sondern mit der Leidenschaft eben eines Juden, der ein wenig zu leidenschaftlich ist für eine orthodoxe amerikanische Karriere.

Joshua Cohen, "Die Netanjahus". Aus dem Englischen von Ingo Herzke. € 25,70 / 288 S. Schöffling, 2023.
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Verstecktes Epos

Ruben muss also einen akademischen Außenseiter so präsentieren, dass seine künftigen Arbeitgeber ihn akzeptabel finden könnten. Das geht gründlich schief und führt zu vielen Szenen, in denen Cohen seiner Lust auf Abstruses die Zügel schießen lässt. In einem Gespräch mit seinem Kollegen Maxim Biller hat er einmal angemerkt, dass er mit Die Netanjahus zeigen wollte, dass er auch einen "normalen", zügigen, unterhaltsamen Roman schreiben kann – bekannt wurde er ja mit sehr intellektuellen Wälzern wie Witz oder Buch der Zahlen. Mit Die Netanjahus tut er nun so, als hätte er Philip Roth mit der Muttermilch absorbiert, der Roman hat aber auch einen starken Hang in Richtung Sitcom. Zwei jüdische Familien auf Crashkurs, als Kulisse eine Winternacht in Corbindale und ein paar halbschräge männliche Exemplare der Gattung Professor.

Für Benjamin, den späteren Bibi, gibt es schließlich tatsächlich so etwas wie eine Urszene. Sie hat mit einer sehr amerikanischen Fernsehserie zu tun. Und auf dieser Ebene ist Die Netanjahus sogar so etwas wie ein verstecktes Epos. Denn Cohen macht einen großen Horizont auf, erzählt von Menschen wie Ben-Zions Frau Zila, die "aus dem litauischen Polen über Minnesota ins vorstaatliche Israel gezogen war". Ruben bemerkt dazu: "Etwa ein Jahrzehnt später sollte ich das gleiche Englisch in den Reden Golda Meirs wieder hören, die als Tochter eingewanderter Eltern in Wisconsin aufgewachsen war. Eine eigenartige Mischung aus Israel und der amerikanischen Prärie."

Eine eigenartige, aber unbedingt überzeugende Mischung ist auch dieser Roman, der in einem schönen Schlusskapitel noch ein Ursprungsmotiv offenlegt und mit einer herrlichen Volte endet. (Bert Rebhandl, 28.1.2023)