Wolodymyr Selenskyj hat nicht nur mit dem Krieg, sondern auch mit Korruption zu kämpfen.

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Vorwürfe wie diese rühren ganz tief an den Wurzeln grundlegender Existenzfragen: Der Krieg dauert bereits fast ein Jahr, ein Ende ist nicht in Sichtweite, ohne Waffenlieferungen aus dem Ausland und vor allem ohne westliches Geld sähe es wohl ganz anders aus, diese Lieferungen durchzuboxen wird in den helfenden Staaten aber innenpolitisch zunehmend kompliziert – und dann platzt die Nachricht, dass das ukrainische Verteidigungsministerium Verpflegung für die Armee angeblich zu bis zu dreifachen Preisen wie in Supermärkten beschafft hat. Und schon wird polemisiert um die Frage, wie viel von all dem Gerät und vor allem dem Geld, das an die Ukraine geht, auch tatsächlich ankommt.

So brennend das Thema, so rasch die Reaktion in der Ukraine. Im Staatsapparat fand in den vergangenen Tagen der bisher größte Umbau seit der russischen Invasion statt: Mehr als ein Dutzend Beamte traten zurück. Darunter sind ein stellvertretender Verteidigungsminister sowie ein hochrangiger Staatsanwalt, der unter Missachtung aller Ausreisebeschränkungen in Spanien Urlaub gemacht hatte. Hinzu kommen fünf regionale Staatsanwälte. Auch ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj trat ab. Der stellvertretende Minister für Infrastruktur wurde festgenommen, ein Ex-Chef des nationalen Gaskonzerns Naftogaz wurde angeklagt.

Offen für internationale Prüfer

Aus dem Verteidigungsministerium heißt es auf Nachfrage von einem Sprecher jedenfalls: Man habe "null Toleranz gegenüber Korruption", und die Reaktion des Präsidenten zeige sehr deutlich, dass man transparent handle, es keine Tabus gebe und dass man die Augen nicht verschließe. Es sei "ein System unabhängiger Korruptionsbekämpfungsstellen geschaffen" worden, so der Sprecher. Schließlich sehe man die eigene Zukunft in der EU und der Nato. Die Ukraine sei aber auch "offen für die Arbeit internationaler Prüfer und bietet die Möglichkeit, Prozesse mit einem hohen Korruptionsrisiko zu prüfen". Denn, so heißt es: Korruption töte Soldaten, "genauso wie die Waffen des Feindes".

Was die Lieferung von Waffen und deren Nachverfolgung angeht, heißt es aus dem Ministerium in Kiew zudem: Man verwende seit Juli 2022 das IT-Logistiksystem Logfas der Nato, um jede einzelne aus dem Ausland gelieferte Waffeneinheit zu kontrollieren. In dieser Datenbank seien Informationen über die Anzahl der Militärangehörigen, die gelieferten Waffen sowie die Lager- und Verteilungsstandorte der Militäreinheiten gespeichert. Durch dieses System habe man ein automatisiertes Logistik-Managementsystem geschaffen, das den Informationsaustausch zwischen den ukrainischen Streitkräften und dem Nato-Hauptquartier erleichtere.

Wichtiges Signal an die Partner

Für die Ukraine geht es in dieser Affäre jedenfalls um sehr viel: darum, den westlichen Partnern zu beweisen, dass man es mit der Bekämpfung von Korruption und der Bestrafung von Misswirtschaft ernst meint, aber auch darum, dem heimischen Publikum zu signalisieren, dass in diesem Feld doch etwas weitergeht.

Denn Korruptionsbekämpfung ist ein harter Brocken in der Ukraine. Die Bilanz der vergangenen Jahre seit der Revolution 2013/14 fällt gemischt aus. Da ist viel verschleppt worden, da ist aber auch sehr viel passiert. Die Bakschisch-Kultur in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ist praktisch verschwunden. Die öffentliche Verwaltung arbeitet weitaus effizienter. Sichtbares Zeichen: die steigende Qualität der Straßeninfrastruktur. Steckengeblieben sind Reformen allerdings bei der Gerichtsbarkeit und auch bei den Korruptionsermittlungsbehörden.

Nur gemeinsam kann man gewinnen

Dass Präsident Selenskyj derart in seinem Personal herumfuhrwerkt, verdeutlicht jedenfalls, wie sehr es drängt. Wie er es in einer Ansprache ausdrückte: Es handle sich um Schritte, die "notwendig für unseren Schutz" und "hilfreich für unsere Annäherung an die europäischen Institutionen" seien. Denn, wie es der erste stellvertretende Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für Korruptionsbekämpfung, Jaroslaw Jurtschyn, gegenüber der Agentur Reuters ausdrückte: "Die Ukraine kann den Krieg gegen Russland nur als Mitglied einer breiten Anti-Putin-Koalition demokratischer Länder gewinnen." Und, so sagt er weiter: Diese hätten eine "klare Forderung nach null Toleranz in Bezug auf Korruption".

Hier geht es um die Existenz, wenn es um Waffen und Material geht; aber vor allem auch um die Jahrzehnte nach dem Krieg, wenn es um den Wiederaufbau geht. Beim deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum im Herbst 2022 war der Wiederaufbau der Ukraine mit sage und schreibe 750 Milliarden Dollar beziffert worden. Die internationale Gemeinschaft, allen voran die EU, hat aber deutlich gemacht, dass Korruption und ihre Bekämpfung ein Kernelement der Annäherung sind. Wie ein EU-Sprecher betonte: Man begrüße die Tatsache, "dass die ukrainischen Behörden diese Probleme ernst nehmen". Weitere Schritte seien aber nötig. Etwa die Ernennung eines neuen, politisch unabhängigen Direktors des Nationalen Antikorruptionsbüros (Nabu).

Korruptionsermittler enttarnt

Diese 2014 unter Beratung der EU eingerichtete Behörde, die 2015 ihre Arbeit aufnahm, ist die wichtigste Einrichtung zur Bekämpfung von Korruption. Ihr eilt an sich auch der Ruf einer korrekten, professionell arbeitenden und vor allem weitestgehend politisch unabhängigen Behörde voraus. Allerdings wurde das Nabu von anderen staatlichen Stellen zum Teil offen an seiner Arbeit gehindert. So wurden verdeckt arbeitende Ermittler des Nabu einmal von anderer staatlicher Stelle einfach enttarnt. Vor allem aber: Das Antikorruptionsbüro hat keinen Chef. Der Posten ist seit dem Frühjahr 2022 vakant. Eine Neubesetzung scheiterte bisher. Selenskyj selbst hat immer wieder die Besetzung binnen weniger Wochen in Aussicht gestellt. Bisher ist aber nichts passiert.

Allerdings war das Nabu gerade in den vergangenen Tagen nahezu hyperaktiv und medial äußerst präsent. Und nun soll es im März eine Entscheidung über den Nabu-Topposten geben. (Stefan Schocher, 27.1.2022)