Im Rennen ist Olympiasiegerin Anna Kiesenhofer sicher. Im Training fährt nicht selten die Angst mit.

Foto: REUTERS/Yves Herman

Auch Profi Felix Gall hält das Training auf der Straße für gefährlicher.

Foto: APA/EXPA/JFK

Es waren Nachrichten, die nicht nur die Radsportszene erschütterten. 2017 starb Michele Scarponi, Sieger des Giro d’Italia 2011, auf einer Trainingsfahrt in seiner italienischen Heimatstadt Filottrano nach einem Frontalcrash mit einem Lkw. Der Fahrer hatte den 37-jährigen Familienvater an einer Kreuzung übersehen. Im November des Vorjahres wurde Davide Rebellin (51) in einem Kreisverkehr von einem Lkw zu Tode gefahren. Der Lenker beging Fahrerflucht, wurde aber später identifiziert. Anfang Jänner verunglückte der österreichische Nationalteamruderer Christoph Seifriedsberger (26) auf einer Trainingsfahrt in Sabaudia, 100 Kilometer südlich von Rom, niedergefahren von einer Frau, die im Gegenverkehr die Kontrolle über ihren Wagen verloren hatte.

Prinzip Tarnkappe

"Schock, Machtlosigkeit, Wut", das sind die ersten Worte, die Anna Kiesenhofer, Olympiasiegerin im Straßenrennen 2021 in Tokio, einfallen, wenn sie von derartigen Todesmeldungen hört. "Auch wenn das skurril klingt, aber ich versuche so zu fahren, als ob ich unsichtbar wäre", sagt Kiesenhofer im Gespräch mit dem STANDARD. Für die Autofahrerinnen und -fahrer mitdenkend, immer bedacht darauf, dass ihr niemand zu nahe kommt.

Es ist der ewige Kampf um Platz auf der Straße. Kiesenhofer hatte bereits zwei Unfälle mit Autos, die sie mit Prellungen ins Spital brachten. Einmal hatte ein Lenker eine Stopptafel überfahren, ein anderes Mal riss jemand vor ihr eine Tür auf. "Ich hatte Glück. Erlebe ich heute ähnliche Situationen, wo es schon mal gekracht hat, krieg ich Angst."

Laut österreichischer Straßenverkehrsordnung müssen Autofahrer beim Überholen von Radfahrern im Ortsgebiet mindestens 1,5 Meter und außerhalb des Ortgebietes mindestens zwei Meter Abstand halten. Was freilich oft nicht eingehalten wird. Jeder Hobbyradfahrer kann aus eigener reichhaltiger Erfahrung über gefährliche Überholmanöver berichten.

Spanien hui, Italien pfui

Kiesenhofer lebt in der Schweiz, weilt aber derzeit wie viele Radprofis in Spanien auf Trainingslager. Es gebe deutliche Unterschiede zwischen den Ländern, was die Verkehrssicherheit betreffe. "In Spanien fühle ich mich sicherer, Autofahrer sind relaxter, fahren auch mal geduldig am Berg mit 15 km/h hinter dir her. In Österreich oder der Schweiz wird rücksichtsloser überholt, die Leute wollen auf ihrer Fahrt keine zwei Sekunden verlieren." Die schlimmsten Erfahrungen hat Kiesenhofer in den USA gemacht. "Dort bist du als Radfahrer regelrecht ein Hassobjekt."

Ist es gefährlicher, auf der Straße zu trainieren oder ein Rennen zu fahren? Für Felix Gall ist die Antwort eindeutig: Im Training lauern mehr Gefahren. Der 24-jährige Osttiroler ist Profi beim französischen World-Tour-Team AG2R Citroën, 2015 war er Juniorenweltmeister. "Im Rennen kämpfen wir zwar ohne Abstand um jeden Zentimeter, bei einem Unfall gibt es aber sofort medizinische Versorgung, es sind nur Betreuerautos unterwegs", sagt Gall.

Licht am Tag

Beim Training in Österreich versucht er große Verkehrsadern, so gut es geht, zu meiden, nicht mitten auf der Straße zu fahren, Lkws winkt er auch einmal vorbei. "Es muss ein Miteinander möglich sein." Gall fährt auch untertags mit blinkendem Licht. In Italien empfindet er den Straßenverkehr als "Katastrophe, richtig gefährlich". Kiesenhofer verwendet ein Rücklicht mit einem Radar, kommt ein Fahrzeuge von hinten zu nahe, schlägt ein Alarm an.

Autofahrer unterschätzen mitunter den Speed von Rennradlern. Christopher Froome, viermaliger Tour-de-France-Sieger, der beim Einfahren für das Critérium du Dauphiné 2019 in eine Mauer knallte und seitdem nicht mehr derselbe Fahrer ist, plädierte einmal dafür, Zeitfahrräder aus dem Radsport zu verbannen. Nach dem Motto: Mehr Sicherheit, weniger Aerodynamik.

Gefahr Material

Macht das moderne Material den Sport noch gefährlicher? "Zeitfahren ist definitiv gefährlicher geworden, man hat die Frontalfläche so weit wie möglich reduziert, ist damit noch weniger sichtbar. Die Allroundräder bieten mit Scheibenbremsen aber schon mehr Sicherheit als früher", sagt Zeitfahrspezialistin Kiesenhofer.

Die 31-jährige Niederösterreicherin ist im Konflikt Auto versus Fahrrad aber auch selbstkritisch. "Rennradfahrer provozieren auch Gefahren. Vor allem wenn größere Gruppen mit vollem Tempo durch Ortschaften fahren, wo Kinder und Fußgänger unterwegs sind. Vorrangtafeln sind nicht selten nur Empfehlungen."

Das Ausweichen auf Radwege ist oft die noch schlechtere Option. Ex-Profi Bernhard Eisel sagte einmal, die gesetzlichen Richtlinien für Radwege in Österreich seien eine geradezu perfekte Einnahmequelle für Krankenhäuser und Reha-Zentren.

Für Kiesenhofer sind die Radwege in Österreich oft zu unübersichtlich, die Ausfahrten zu eng. "Das ist kontraproduktiv. Als Radfahrer benützt man dann doch wieder die Straße. Nach dem Motto: Lieber kein Radweg als ein schlechter Radweg." (Florian Vetter, 7.2.2023)