"Zu uns kommen natürlich nicht nur Menschen, die vorher bei der Polizei waren", lässt Marina Sorgo, Vorsitzende des Bundesverbandes der österreichischen Gewaltschutzzentren, wissen.

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Die Zahl der Betretungs- und Annäherungsverbote ist in den vergangenen Jahren österreichweit kontinuierlich gestiegen. Von 2021 auf 2022 wurden um knapp sieben Prozent mehr solcher Maßnahmen verhängt, ein Plus von 13.546 auf 14.462. Das gaben die österreichischen Gewaltschutzzentren am Freitag bei einer Pressekonferenz in Wien bekannt und machten auf Lücken im österreichischen Recht aufmerksam, die im Sinne des Opferschutzes geschlossen werden sollten.

Marina Sorgo, Vorsitzende des Bundesverbandes der österreichischen Gewaltschutzzentren, sagte, dass sich diese Entwicklung auch analog bei den Kontakten von Betroffenen bei den Gewaltschutzzentren insgesamt beobachten lässt. "Zu uns kommen natürlich nicht nur Menschen, die vorher bei der Polizei waren." 23.648 Personen berieten Gewaltschutzzentren im Jahr 2022. 2021 waren es noch 22.039 Beratungen, 2020 lag die Zahl bei 20.587. Etwa 85 Prozent der Gewaltausübenden sind männlich. Bei den verhängten Betretungs- und Annäherungsverboten setzt sich diese Geschlechterverteilung ungefähr fort. 87 bis 88 Prozent dieser Verbote betreffen Männer.

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Hilfe suchen "selbstverständlicher"

"Sich Hilfe zu suchen ist selbstverständlicher geworden", sagt Sorgo. Das liege einerseits an dem gestiegenen Bewusstsein, andererseits an dem Ausbau der Unterstützungsangebote für Betroffene. Als Beispiele dafür nannte Sorgo, dass die Polizei intensiv in der Grundausbildung geschult werde. "Auf der anderen Seite sehen die Menschen, dass es etwas hilft (wenn sie sich an die Behörden oder die zuständigen Stellen wenden, Anm.)", sagte sie.

Ein Defizit ist der Bundesvorsitzenden zufolge noch immer die Sichtbarkeit der Gewaltschutzzentren. Unter anderem mit einer Corporate-Identity will man dem abhelfen: So heißt auch die Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie nun Gewaltschutzzentrum und befindet sich ebenfalls unter dem Dach des Bundesverbandes, wie deren interimistische Geschäftsführerin Nicole Krejci erläuterte. "70 bis 80 Prozent der Opfer von Frauenmorden waren vorher nicht bei der Polizei oder bei Opferschutzeinrichtungen", betonte Sorgo. Der Bundesverband sieht auch nicht die Gefahr, dass sich Betroffene in einem "Dschungel der Anlaufstellen" verirren könnten. Betroffene würden weitervermittelt, wenn die Beraterinnen und Berater merken, dass eine andere Stelle für sie geeigneter wäre.

Weisungsrecht ausbauen

Die Gewaltschutzzentren bemühen sich auch, dass Gesetzeslücken im Opferschutz geschlossen werden. So wollen sie, dass Betroffene von Gewalttaten ein Antragsrecht für Weisungen des Gerichts bekommen. "Weisungen können dazu beitragen, den Schutz von Opfern zu erhöhen", findet Karin Gölly, stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes. Infrage kämen etwa Kontaktverbot für den Täter, opferschutzorientierte Trainings gegen Gewalt oder die Auflage, dass er sich einem Alkoholentzug unterziehen muss.

Prozessbegleitung

Gölly fordert zudem den Anspruch auf juristische Prozessbegleitung für Gewaltopfer bei zivilrechtlichen Verfahren. Aktuell haben Betroffene einen solchen Anspruch – sowie einen auf psychosoziale Begleitung – im Fall eines Strafverfahrens. Bei Zivilverfahren gebe es hingegen lediglich "den Anspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung, und auch nur dann, wenn bereits im vorangegangenen oder parallelen Strafverfahren Prozessbegleitung in Anspruch genommen wurde", heißt es. Ein Beispiel wären Scheidungs- und Obsorgeverfahren oder auch bei der Feststellung des hauptsächlichen Aufenthaltsortes von Kindern.

Gölly forderte darüber hinaus österreichweit standardisierte Tools bei der Risikoeinschätzung von Gefährdern. Dass das bisher nicht so sei, ortete sie als Defizit. Außerdem wäre es aus Sicht der Gewaltschutzzentren wichtig, in Fällen, in denen man schon sehe, dass patriarchale Strukturen vorhanden sind, oder bei denen es sich um vulnerable Familien handelt, früher Hilfe anzubieten. "Als Opferschutzeinrichtung stehen wir am Ende der Kette", erläuterte Sorgo. Oft erfahren die Behörden und Einrichtungen aber deutlich früher von prekären Verhältnissen, etwa durch die Kinder- und Jugendhilfe. Ziel ist, angelernte Verhaltensmuster frühzeitig zu durchbrechen.

Das Bundeskriminalamt wies zu den Tools zur Risikoeinschätzung darauf hin, dass man seit längerer Zeit die am Markt verfügbaren Produkte evaluiere. "Hierbei ist uns wichtig, dass die Struktur und Arbeitsweise dieses Werkzeuges (auch) wissenschaftlich fundiert ist", hieß es in einer der APA übermittelten Stellungnahme. In Europa würden derzeit viele verschiedene derartige Gefährdungseinschätzungs-Instrumente eingesetzt, die sich voneinander in relevanten Punkten unterscheiden. (muz, APA 27.1.2023)