Der Mangel an Menschen ist allgegenwärtig. Im Gesundheitswesen ist die Lücke bei Pflegefachkräften, Technikern und Ärzten inzwischen so groß, dass österreichweit hunderte Spitalsbetten gesperrt sind. Laut einer parlamentarischen Anfragebeantwortung durch Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) konnte die Polizei im vergangenen Jahr 600 Planstellen nicht besetzen, weil Bewerberinnen und Bewerber fehlten. Bei den Wiener Linien sind aktuell 124 Stellen unbesetzt: Der Personalmangel führt dazu, dass Intervalle im öffentlichen Verkehr vergrößert wurden.

Beim Arbeitsmarktservice (AMS) waren zuletzt 109.800 unbesetzte Stellen registriert, obwohl die Konjunktur lahmt und gerade Winter ist, eine traditionell schwächere Jahreszeit am Jobmarkt. Vielleicht noch beunruhigender ist die Entwicklung am Lehrstellenmarkt. Die Zahl der offenen Lehrstellen hat im Jahresabstand um 19,5 Prozent zugelegt, jene der Lehrstellensuchenden bloß um 6,3 Prozent. Unterm Strich fehlen um die 1000 Lehrlinge.

Der Mangel ist ein zunehmendes Problem für Österreichs Wirtschaft, denn es verdichten sich die Anzeichen, dass die Zahl potenzieller Arbeitskräfte in naher Zukunft im Land alterungsbedingt sinken wird. Um den Wohlstand zu erhalten oder zu steigern, braucht es aber den gemeinsamen Einsatz von Arbeit und Kapital.

Ohne Menschen, die Straßen reparieren, Kinder unterrichten und Computer programmieren, droht ein Rückgang der Wirtschaftsleistung. Während die Politik sich derzeit vor allem damit beschäftigt, wie Migration ins Land eingedämmt werden kann – Stichwort hohe Asylzahlen –, liegt das wirtschaftliche Problem darin, dass wir zu wenige werden.

Die Entwicklung wird auch europaweit zusehends diskutiert.

Europas Bevölkerung schrumpft

In dieser Woche veröffentlichte der Dachverband der europäischen Arbeitsmarktagenturen eine Analyse zur Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Europa. In 20 der 30 Länder, die dem Dachverband angehören, wird demnach bis 2050 die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter zwischen 15 und 64 deutlich sinken. Dramatisch ist die Situation in den baltischen Staaten. In Lettland, Litauen und Estland soll die Erwerbsbevölkerung um 35, 33,4 und 14,1 Prozent zurückgehen. Aber auch Portugal, Kroatien, Bulgarien und Polen könnten in den kommenden Jahren mehr als ein Fünftel der Menschen im Arbeitsalter verlieren.

Der Trend ist keine Zukunftsmusik. In den 27 EU-Ländern plus Norwegen, Liechtenstein und Island sind im vergangenen Jahr 23,7 Millionen 15- bis 19-Jährige neu auf den Arbeitsmarkt kommen. Zeitgleich haben 27,1 Millionen Menschen über 65 den Arbeitsmarkt verlassen. Die Lücke beträgt 3,4 Millionen Menschen und soll bis 2050 auf 6,3 Millionen Beschäftigte anwachsen.

Während das Minus in Österreich am unteren Rand angesiedelt ist, sieht die Entwicklung in Deutschland, dem wichtigsten Handelspartner, dramatischer aus. Der Grund: Die Zuwanderung nach Österreich war aus Osteuropa deutlich höher. Über diese positive Konsequenz der Migration wird selten geredet.

Wohlstand bereits bedroht

Die deutsche Förderbank KfW warnt jedenfalls in einem ebenfalls soeben veröffentlichten Paper davor, dass in Deutschland noch in diesem Jahrzehnt ein "schleichender Wohlstandsverlust" durch den Arbeitskräftemangel einsetzen könnte – die Wirtschaftsleistung würde also stetig zu schrumpfen beginnen. Die Folge wären verschärfte Verteilungskonflikte. Um das auszugleichen, müssten jährlich 1,8 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern, heißt es in der Studie. In den vergangenen Jahren lag der Zuwanderungssaldo zwischen 200.000 und 400.000. Nötig wäre also eine gewaltige Zunahme der Migration, in einer Dimension, die unrealistisch erscheint.

Eine Alternative wäre, die Produktivität je Arbeitskraft zu erhöhen, und zwar so, dass sie um ein Prozent pro Jahr steigt. Das wäre dreimal höher als das jährliche Produktivitätswachstum in den vergangenen zehn Jahren. Auch diese Strategie wird also schwierig.

Der Mangel an Arbeitskräften ist in Österreich bereits allgegenwärtig. Auch bei den Wiener Linien fehlen Arbeitskräfte
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Wie sehen die Zahlen für Österreich aus? Die Statistik Austria schätzt in ihrer aktuellen Bevölkerungsprognose, dass die Erwerbsbevölkerung ab 2024 zurückgeht. Bis 2030 sinkt die Zahl der 15- bis 64-Jährigen um 125.000 Personen. Laut dem Thinktank Economica wird sich in den kommenden zwölf Jahren eine Lücke bei den Beschäftigten aufbauen, die zwischen 540.000 und 650.000 Menschen liegt. Das Institut hat ausgerechnet, wie viele der heute 45- bis 54-Jährigen in den kommenden Jahren durch die Fünf- bis 14-Jährigen ersetzt werden können. Mehr als ein Zehntel des aktuellen Arbeitskräftepotenzials droht Österreich zu verlieren, sagt Economica-Chef Christian Helmenstein.

Ein Ausweg: Wer ist aktivierbar?

Freilich lassen sich auch Einwände gegen die These finden, dass der Bevölkerungsrückgang die große Wohlstandsbedrohung in naher Zukunft sein wird. Einer lautet, dass die Bevölkerungsentwicklung schwer vorherzusagen ist. Die Statistik Austria hatte schon für 2022 einen Rückgang der Erwerbsbevölkerung prognostiziert. Dann kam der Krieg in der Ukraine mitsamt der Fluchtwelle. Allerdings fehlen überall in Europa Menschen. So einfach wird das Minus also durch Migration nicht zu kompensieren sein.

Gewichtiger ist schon das Argument, das Ökonomen wie Helmut Mahringer vom Forschungsinstitut Wifo ins Treffen führen. Ein Rückgang der Bevölkerung im Erwerbsalter muss noch nicht zwingend bedeuten, dass auch die arbeitende Bevölkerung schrumpft. Es gibt viele Reserven. Die Erwerbsquoten der Frauen sind niedriger als jene der Männer, sie gehen früher in Pension. Etwa 50 Prozent der weiblichen Beschäftigten arbeiten Teilzeit. Sie könnten ihre Stunden aufstocken. Das gesetzliche Frauenpensionsalter steigt ab 2024, ein Umstand, der in der Economica-Analyse nicht berücksichtigt ist.

Dazu kommt, dass bei Älteren die Beschäftigungsquoten generell niedrig sind. Und es gibt nach wie vor viele Arbeitslose. Diese Gruppen ließen sich aktivieren, über mehr Druck oder mit zusätzlichen Anreizen. Auch in der erwähnten KfW-Studie gilt die Aktivierung zusätzlicher Ressourcen als Möglichkeit, den Mangel auszugleichen. Doch einfach werde das nicht, so das Fazit. (András Szigetvari, 29.1.2023)