Verteidigungsministerin, Oberbefehlshaber, Generalstabschef: Nicht nur beim Militär muss man die Risiken für den Staat ernster nehmen.

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Wer Goethes Faust liest, stößt dort auf die gemütlichen Bürger, die sich beim Spaziergang "nichts Bessers" wissen "als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen". Zur Goethezeit meinte man, dass ferne Kriege unsereins in Mitteleuropa nichts angingen. Und viele in Mitteleuropa sind in dieses falsche Sicherheitsdenken zurückgefallen, als mit dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion jegliche Bedrohung unserer Sicherheit verschwunden zu sein schien.

Beim Militär hat man zu sparen angefangen, nicht nur beim österreichischen. "Friedensdividende" haben es die damaligen Politiker genannt – und ihre Armeen auf die bescheidenen Größen von Hilfstruppen für internationale Einsätze geschrumpft. Vor ihrer Nase hat nicht nur Russland, sondern auch eine Reihe anderer autoritär geführter Staaten militärische Kapazitäten aufgebaut – und auch "weit hinten in der Türkei", genauer: in deren unmittelbarer Nachbarschaft, haben Gefechte stattgefunden, die hierzulande allenfalls unter dem Aspekt der dadurch entstandenen Flüchtlingsbewegungen wahrgenommen wurden.

Verfassungsgebot ignoriert

Wobei lange Zeit die bequeme Haltung vorgeherrscht hat, dass eine allfällige Bedrohung Österreichs ohnehin von umgebenden Nato-Staaten aufgefangen würde. Und wenn nicht, dann hätte Österreich ja ohnehin keine Chance – daher sollte man lieber gar nicht erst an Verteidigung denken. Dass Verteidigung nicht allein Sache des auf ein Minimum geschrumpften Bundesheers sein kann, sondern geistige, wirtschaftliche, zivile und womöglich auch ökologische Verteidigung umfassen muss (wie es die Verfassung vorsieht), wurde ebenso geflissentlich ignoriert. Dass etwa zur wirtschaftlichen Landesverteidigung ein Bevorratungssystem gehört, wurde erst in der aktuellen Krise um Energie und Medikamente wieder zum Thema. Und wo sich sonst Schwachstellen gezeigt haben – etwa in der Wehrbereitschaft –, hat man kalmiert: Wir sind doch so beliebt, uns wird keiner etwas tun.

Dass man nicht gut sehen kann, was unmittelbar vor der eigenen Nasenspitze passiert, hat schon George Orwell in seinem Essay "In Front of Your Nose" festgestellt – und gegen die Ignoranz angesichts greifbarer Gefahren angeschrieben. Das am Freitag präsentierte "Risikobild 2023 – Krieg um Europa" steht in dieser Tradition. Ob es ernst genommen wird oder als militärisches Machwerk abgetan wird, könnte zur Überlebensfrage der Republik werden. (Conrad Seidl, 27.1.2023)