"Umfassender Kinderschutz müsste weiter reichen und auch an anderen Stellen ansetzen", sagt Barbara Neudecker, Bildungswissenschafterin und individualpsychologische Psychotherapeutin, im Gastkommentar.

Der Fall Teichtmeister hat die Politik auf den Plan gerufen: Die Ministerinnen Raab und Zadić (Mitte), Minister Rauch und Staatssekretärin Plakolm (re.) präsentierten diese Woche ein Maßnahmenpaket.
Foto: APA / Roland Schlager

Wie so oft, wenn die Politik Verbesserungen im Kinderschutz ankündigt, blicken Kinderschützerinnen und Kinderschützer auch diesmal mit einem lachenden und einem weinenden Auge auf die geplanten Neuerungen. Die meisten der diese Woche veröffentlichten Vorhaben – das Paket umfasst die Bereiche Prävention, Opferschutz und Strafmaß – sind zu begrüßen, und doch bleiben Wermutstropfen: dass es erst öffentlichkeitswirksame Einzelfälle braucht, damit sich etwas ändert, oder dass vermutlich allen Beteiligten klar ist, dass mit dem Kinderschutzpaket zwar ein wichtiger, aber auch nur ein kleiner Schritt gesetzt wurde. Umfassender Kinderschutz müsste weiter reichen und auch an anderen Stellen ansetzen.

Die Österreichischen Kinderschutzzentren machten in einer Stellungnahme auf die Bedeutung von Prävention im Kinderschutz aufmerksam. Schon vor rund hundert Jahren wies der Wiener Sozialreformer Julius Tandler mit dem Ausspruch "Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder" darauf hin, dass man, wenn man gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenwirken will, früh, umfassend und an vielen Stellen im System investieren muss. Das gilt auch für den Kinderschutz.

Selten ein Paukenschlag

Zu Recht wird ein Ausbau spezialisierter Kinderschutzeinrichtungen gefordert. Doch diese können erst eingreifen, wenn ein Kinderschutzfall aufgedeckt oder zumindest vermutet wird. Dass es überhaupt so weit kommt, ist oft jenen Berufsgruppen zu verdanken, die tagtäglich mit Kindern zu tun haben, etwa Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen, Lehrerinnen und Lehrer, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen. Körperliche, sexualisierte oder psychische Gewalt an Kindern wird nur selten mit einem Paukenschlag offengelegt. Viel häufiger sind die ersten Anzeichen bei Kinderschutzfällen leise, zum Beispiel wenn Kinder verschleierte Andeutungen machen, sich in ihrem Verhalten ändern oder belastet wirken. Oft sind es sensible Pädagoginnen und Pädagogen, die dann aufmerksam werden, das Kind genauer beobachten und weitere Schritte einleiten.

Die nun angekündigten Kinderschutzkonzepte für Schulen sollen hier unterstützen. Doch sie können nur wirksam sein, wenn es in den Einrichtungen genügend personelle Ressourcen gibt, um sie umzusetzen. Und gerade daran mangelt es: Kindergärten sind unterbesetzt, viele Schulen suchen in der Mitte des Schuljahres noch händeringend nach Lehrpersonen. In Wien drohen zahlreiche Beratungslehrerinnen und Beratungslehrer und Psychagoginnen und Psychagogen, die darauf spezialisiert sind, belastete und auffällige Kinder im Pflichtschulbereich zu unterstützen, von ihren Stellen abgezogen und als Klassenlehrkräfte eingesetzt zu werden. Genau ihre Expertise würde aber für die Prävention und Intervention bei Kinderschutzfällen besonders dringend benötigt!

"Hier mit dem allgemeinen Fachkräftemangel zu argumentieren greift zu kurz."

Ähnlich ist es in der Kinder- und Jugendhilfe, der Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdung gemeldet werden müssen. Auch dort wäre mehr Personal notwendig, um Gefährdungsmeldungen in Ruhe und umfassend nachgehen zu können, vor allem in jenen Fällen, in denen sich die Gewalt nicht auf den ersten Blick zeigt. Sozialpädagogische Wohngemeinschaften, in denen zum Teil hochbelastete Kinder betreut werden, die nicht in ihren Familien aufwachsen können, sind ebenfalls unterbesetzt – und die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden.

Hier mit dem allgemeinen Fachkräftemangel zu argumentieren greift zu kurz. Die fehlenden Fachkräfte in der Pädagogik und der sozialen Arbeit haben sich ja nicht plötzlich in Luft aufgelöst. Viele von ihnen verlassen schweren Herzens nach jahrelanger belastender Tätigkeit in einem schlecht bezahlten Arbeitsfeld ihren Beruf, weil sie nicht mehr so arbeiten können oder wollen. Oft sind es besonders engagierte, kompetente Personen, die das Bildungssystem oder die Kinder- und Jugendhilfe verlassen. Sie fehlen in der Prävention und als aufmerksame Bezugspersonen, die die Interventionskette in Gang setzen könnten, wenn ein Kind Hilfe benötigt.

"Wer etwas für den Kinderschutz tun will, muss also auch dafür sorgen, dass Bildungs- und soziale Arbeit anständig entlohnt wird."

Um wirksamen Kinderschutz zu leisten, müsste man in Anlehnung an Tandler nicht nur Kindern "Paläste bauen", also in sie investieren, sondern auch den Fachkräften, die mit ihnen arbeiten. Und es bräuchte nicht einmal "Paläste", denn was viele Fachkräfte veranlassen würde zu bleiben, ist bei weitem kein Luxus: angemessene Bezahlung, angemessene Arbeitsbedingungen und angemessene Personalschlüssel. Wer etwas für den Kinderschutz tun will, muss also auch dafür sorgen, dass Bildungs- und soziale Arbeit anständig entlohnt wird.

Strukturen stärken

Wir brauchen ein Umdenken im Kinderschutz. Es ist gut, dass längst fällige Änderungen nun umgesetzt werden: die Umbenennung des unwürdigen "Kinderpornografie"-Paragrafen in "Darstellung von Kindesmissbrauch", die Aufstockung bei der Kriminalpolizei oder Kinderschutzkonzepte für Schulen. Dabei bleibt offen, warum es die Schutzkonzepte nicht für alle Einrichtungen, in denen mit Kindern gearbeitet wird, geben soll. Neben diesen Einzelmaßnahmen müssen aber auch alle gesellschaftlichen Strukturen, die Kinder und ihre Familien unterstützen, gestärkt werden.

Wenn man nun Bildungseinrichtungen, die ohnehin schon an der Grenze ihrer Belastbarkeit stehen, Schutzkonzepte zur Auflage macht, ohne mehr Personal und finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die nächsten Kinderschutzfälle die Öffentlichkeit erschüttern werden. (Barbara Neudecker, 29.1.2023)