Wie viel materielle Unterstützung will der Westen der Ukraine liefern? Diese Frage sorgt seit Ausbrauch des Ukraine-Krieges für Diskussionen.

Tomáš, so viel steht mittlerweile fest, war nur die Vorhut. Wie sich der betagte, aber immerhin renovierte T-72-Kampfpanzer aus Sowjetzeiten, den eine tschechische NGO im Herbst in Eigenregie den ukrainischen Streitkräften spendete, auf dem Schlachtfeld schlägt, ist unbekannt. Ob er überhaupt noch im Einsatz ist, ebenso.

Was zählte, war – wie so oft in diesem Krieg – aber ohnehin eher die Symbolik: Binnen weniger Wochen haben mehr als 11.000 Tschechinnen und Tschechen 1,3 Millionen Euro gesammelt und den 42-Tonner mit dem lieblichen, an Republikgründer Tomáš Garrigue Masaryk erinnernden Namen kurzerhand gekauft – um ihn dann als weltweit ersten per Crowdfunding finanzierten Panzer der Ukraine zu übergeben. Wenn die da oben nicht und nicht handeln, so die Botschaft, müssen eben die Bürgerinnen und Bürger die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Aggression unterstützen. Vier Monate später haben die westlichen Staatskanzleien die Signale dann doch noch gehört.

Was der Westen jetzt der Ukraine verspricht

In der vergangenen Woche gaben die großen europäischen Panzerproduzenten Großbritannien, zuletzt Deutschland und womöglich bald auch Frankreich nämlich eine neue Parole aus: Klotzen statt kleckern – wenngleich auch im Konzert der Großen viel Symbolpolitik mitklingt.

Seitdem Deutschlands Kanzler Olaf Scholz am Dienstag nach langem Hickhack grünes Licht für die Lieferung deutscher Leopard-2A6-Kampfpanzer gab und auch andere europäische Nato-Staaten der Ukraine "Leos" zur Verfügung stellen, scheint der Bann gebrochen: Nach Artillerie, Luftabwehr und Schützenpanzern liefert der Westen Kiew jetzt auch schwere Kampfpanzer.

Insgesamt dürften Deutschland und andere europäische Länder die Ukraine in den kommenden Monaten mit etwa 100 Leopard 2 ausrüsten; die USA haben Kiew am Mittwoch zudem 31 ihrer Abrams M1 versprochen. Großbritanniens Premier Rishi Sunak hatte überhaupt schon Mitte Jänner angekündigt, 14 Stück des Typs Challenger 2 zu liefern. Frankreich, das ebenso über eine Panzerindustrie verfügt, schließt die Lieferung von Leclerc-Panzern nicht aus, wie es aus Paris heißt.

Zaudern aus Berlin

Dass sich Berlin nach quälend langen Wochen des Zauderns doch noch zu einem Ja zur Lieferung von Kampfpanzern gegen die russische Aggression durchgerungen hat, wirkt auf die anderen Verbündeten der Ukraine, allen voran Polen, wie eine Erlösung – wenn diese auch vermutlich nicht von langer Dauer sein dürfte. Endlich, sagen die einen. Viel zu spät, monieren die anderen.

In Kiews gewohnt kreativen PR-Abteilungen wurde der plötzliche Aktionismus im Berliner Kanzleramt mit demonstrativer Dankbarkeit quittiert. "Tanke schön" – eine Verballhornung der Wörter Danke und dem englischen "tank" – hieß es nach der Kanzlerrede im Bundestag in den Twitter-Profilen vieler ukrainischer Offizieller.

Der Kampfpanzer Leopard 2A6.
Foto: der Standard

Was die Ukraine wirklich braucht

In den Jubel mischt sich aber schon jetzt Ernüchterung. "Too little, too late" – mit den versprochenen Panzern lasse sich Russlands Feldzug gegen die Ukraine nicht stoppen, sagen Fachleute, schon deshalb, weil es Monate dauern dürfte, bis die westlichen Fahrzeuge tatsächlich an der Front einsetzbar sind.

Erweist sich die politisch so mühsam erkämpfte Waffenhilfe am Ende gar als Rohrkrepierer?

Die nackten Zahlen legen dies jedenfalls nahe. Der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj hatte den westlichen Verbündeten schließlich schon kurz vor Weihnachten einen detaillierten Wunschzettel vorgelegt: "Ich brauche 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen", ließ der Generalstabschef die Hauptstädte wissen. Mit den neuen Waffen sollte einem neuen Großangriff Russlands begegnet werden, den Saluschnyj in den kommenden Wochen dräuen sieht – wenn nicht früher.

Kein "Gamechanger"

Darüber hinaus erhofft sich die Ukraine von den neuen Waffen aber auch die Chance, verlorenes Territorium zurückzuerobern. Denkbar erscheint etwa eine Gegenoffensive der Ukraine in Richtung des von Russland eroberten Mariupol und der besetzten Halbinsel Krim – allerdings, so betonen Fachleute, werden dafür die bisher zugesagten Kampf- und Schützenpanzer längst nicht ausreichen. Sind die mächtigen "Leoparden" also nur ein Tropfen auf den heißen Stein?

Einen echten "Gamechanger" – also eine Waffe, die eine Wende im Kriegsgeschehen bringen könnte – sieht Bundesheer-Analyst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt in den bisher zugesagten Lieferungen jedenfalls nicht. Die Situation in der Ukraine erinnert den Historiker an den Ersten Weltkrieg: "Wir haben es mit einer Pattsituation zu tun. 1917 war es die damals neuartige Waffe Panzer, die in großer Zahl aus einem Stellungs- wieder einen Bewegungskrieg machte. Will die Ukraine heute das Patt auflösen, braucht sie mindestens 300 Kampfpanzer", analysiert er im STANDARD-Gespräch.

Ungleiches Verhältnis

Zum Vergleich: Gegner Russland besitzt Fachleuten zufolge mehr als 2000 schwere Kampfpanzer – und könnte bei Bedarf mindestens 2000 weitere rasch instandsetzen. Schon deshalb sei die Ukraine dazu verdammt, auf das Prinzip Klasse statt Masse zu setzen: "In Russlands Armee gilt die Doktrin, dass es vier eigene Panzer des Typs T-72 braucht, um einen Leopard zu zerstören", sagt Reisner.

Der Exportschlager der deutschen Waffenschmieden müsse ersetzen, was im erbittert geführten Stellungskrieg bisher zerstört wurde: ukrainische Kampfpanzer "made in USSR". Zwar vermochte die Armee im Zuge ihrer Gegenoffensiven viele dieser Modelle von den russischen Angreifern zu erbeuten, nach elf Monaten Krieg reichen sie aber nicht mehr aus.

Panzerspenden aus Polen

Allein Polen, das auch in der aktuellen Debatte gehörig Druck auf das zögerliche Leopard-Herstellerland Deutschland ausgeübt hatte, hat seinem Nachbarland im Südosten im Sommer mehr als 250 T-72 überlassen – schwere, den Ukrainern noch aus Sowjetzeiten bekannte Panzer ähnlich dem von tschechischen Privatleuten gespendeten "Tomáš" also.

Jedoch: Aufgrund des regen Lieferverkehrs in die Ukraine sind diese mittlerweile Mangelware in den Arsenalen der östlichen Nato-Staaten. So muss Kiew auf Waffensysteme setzen, mit denen seine Soldaten noch weit nicht so vertraut sind – und darauf bauen, dass Scholz, US-Präsident Joe Biden und die anderen Verbündeten in Zukunft tatsächlich klotzen, statt so wie bisher bloß zu kleckern.

Doch man kann auch in Berlin, London oder Washington nicht eben aus dem Vollen schöpfen, was Kampfpanzer betrifft. "Die Arsenale wurden nach 1989 massiv zurückgefahren, weil man dachte, man habe es künftig mit Aufstandsbekämpfung wie im Irak zu tun – und nicht mit einem Angriffskrieg in Europa", sagt Reisner. Schnelle Abhilfe sei nicht in Sicht: "Weder die europäische noch die US-Rüstungsindustrie hat bisher begonnen, im großen Maßstab neue Kampffahrzeuge zu produzieren."

Kampfpanzer allein werden den russischen Angriffskrieg nicht stoppen können. Schon ist die nächste Debatte ausgebrochen: Kampfjets ja oder nein?
Foto: FELIX SCHMITT/The New York Times

Warum die Hilfe spät kommt

Schon Ende Jänner, so der ukrainische Armeechef Saluschnyj, könnte Moskau zu einem neuerlichen Versuch ansetzen, sich doch noch die gesamte Ukraine einzuverleiben – inklusive der Hauptstadt Kiew, wo Präsident Wolodymyr Selenskyj seinen westlichen Partnern zwar dankt, aber unablässig weitere Hilfen einfordert. Auch deshalb, weil es noch dauern dürfte, bis die westlichen Hightech-Panzer auch wirklich an der Front ihren Dienst versehen. Der Transport schnell verfügbarer Panzer – meist via Polen, Slowakei und Rumänien – in die Ukraine ist dabei das geringste Problem: Zwei bis drei Wochen dauert die Lieferung per Schiene und Tieflader, heißt es. Das Verteidigungsministerium in Berlin schätzt, dass die deutschen Leopard 2 in etwa zwei Monaten in der Ukraine sein könnten, die US-Abrams längstenfalls erst in sechs bis acht Monaten.

"Aus militärischer Sicht ist die Versorgung der unterschiedlichen Panzer mit Ersatzteilen, Ladesystemen, Logistikpaketen und schließlich auch Munition eine weit größere Herausforderung", erklärt Bundesheer-Analyst Reisner.

Komplexe Waffen, komplexe Ausbildung

Und auch die Ausbildung der ukrainischen Soldaten an den – im Vergleich zum bisher eingesetzten Gerät – hochkomplexen Waffen gehe nicht von heute auf morgen vonstatten: "Wenn man nicht möchte, dass der Panzer gleich wieder verloren geht, muss man in die Ausbildung investieren."

Schon die Minimaleinschulung schlage mit etwa acht bis zwölf Wochen zu Buche. Bis ein Soldat sein Gerät als Element des sogenannten Kampfes der verbundenen Waffen erfolgreich nutzen könne, vergingen aber Monate bis Jahre. Für sich allein sei der Nutzen moderner Kampfpanzer nämlich eher gering, sagt Reisner.

Und selbst wenn die findigen ukrainischen Panzersoldaten rasch lernen: Für eine Gegenoffensive im großen Stil, die der politischen Führung in Kiew vorschwebt, braucht es noch einen weiteren Faktor, der auch schon lange auf dem Wunschzettel steht: Luftunterstützung.

"Es ist Krieg in Europa": Olaf Scholz verteidigt Lieferung von Panzern an die Ukraine

DER STANDARD

Wie es jetzt weitergeht

Dass die nun zugesagten Panzer nicht viel mehr als ein erster Schritt des Westens sein können, stellte die Führung in Kiew postwendend klar. "Die Ukraine braucht Verstärkung für ihre Luftwaffe", läutete der Vizeaußenminister und frühere Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, gleich die nächste Rüstungsdebatte ein. Für eine Atempause bleibt jedenfalls keine Zeit. Schließlich plagen die ukrainische Armee in der Luft ähnliche Probleme wie am Boden: Ersatzteile und Munition für die sowjetischen MiG-29-Jets gehen langsam zur Neige, auch wenn die osteuropäischen Natostaaten die Ukraine bisher massenhaft damit versorgt haben.

In einem ersten Schritt könnten etwa Polen und die Slowakei ihre alten MiGs liefern, hieß es am Freitag. Einmal mehr ist es Warschau, das in der Debatte die Schlagzahl erhöht: "Ich glaube, wir, die Nato, müssen mutiger sein", erklärte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki.

Während die US-Armee schon seit einigen Wochen ukrainische Piloten an modernen F-16- und F-18-Jets ausbildet, lässt sich das Weiße Haus mit einer Entscheidung über Lieferungen Zeit – wohl noch bis Februar. Der US-Flugzeugbauer Lockheed Martin kündigte am Freitag aber an, die Produktion der von der Ukraine besonders ersehnten F-16 zu erhöhen.

Deutschlands Kanzler Olaf Scholz sieht beim Thema Kampfjets eine rote Linie erreicht – wie einst bei Kampfpanzern. (Florian Niederndorfer, 28.1.2023)