Drei Hans Castorps auf Sanatoriumsbesuch, der Vetter in Großaufnahme mit im Bild: V. li. Felix Kammerer, Markus Meyer und Dagna Litzenberger Vinet.

Foto: Marcella Ruiz-Cruz

Romane wie Der Zauberberg, Thomas Manns 1924 erschienenes Opus magnum, gleichen ihrerseits Bergriesen: Solche zerklüfteten, nach allen Himmelsrichtungen ausladenden Prosamassive enthalten oft eine Vielzahl von Diagnosen. Manns Geschichte eines Sanatoriumsaufenthalts fühlt den Abendländern an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg aufmerksam den Puls. Eine Gruppe Schwindsüchtiger erörtert, unter Beiziehung würziger Gebirgsluft, noch einmal die geistigen Grundlagen des eigenen politischen und moralischen Totalbankrotts.

Der Zauberberg wird seit geraumer Zeit immer wieder auf heimischen Bühnen malträtiert. Da möchte auch das Wiener Burgtheater keineswegs abseitsstehen. Regisseur Bastian Kraft hat seinen Ausstatter Peter Baur einen allerliebsten Eisberg erschaffen lassen. In der Bühnenmitte erhebt sich ein Metagebirge, formschön zusammengezimmert aus windschiefen Balken und Kacheln. Ein Komplex, der so auch aus dem Planungsbüro des russischen Grafikers und Malers Wassily Kandinsky stammen könnte.

Flugs bemächtigt sich eine Seilschaft aus vier Alpinkletterern des künstlichen Bergriesen. In vierfacher Gestalt stattet Manns aufreizend naiver Held Hans Castorp den Lungenleidenden einen Besuch ab: Als selbsternannter "Beobachter" und Zaungast macht er dem Sanatorium und dessen kuriosen Gästen seine Aufwartung. Als ein Hauptbetroffener, als ein rundum Desillusionierter wird er es sieben Jahre später verlassen: in Richtung der rasch in Blut getauchten flandrischen Schlachtfelder. In der Wiener Burg sind dann gerade einmal zwei Stunden zehn Minuten vergangen. Die Zeitspanne gleicht einer gefühlten Ewigkeit.

Sportlicher Ansatz

Castorps allmähliche Verwandlung in ein involviertes Subjekt wird von Kraft zunächst sportlich angegangen. Vier blonde Jünglinge im crèmefarbenen Jahrhundertwende-Wollzeug springen wie die Bergziegen von Klippe zu Klippe. Sie rutschen Klüfte herab oder besteigen eilfertig Felskanzeln, um viele schöne Thomas-Mann-Sätze mustergültig zu deklamieren.

Der Clou dieser vollendet kunstfertigen Ausführung ist jedoch – wir schreiben schließlich das Jahr 2023 – die Videoausstattung von Sophie Lux. Auf alle frei werdenden Flächen werden Voraufzeichnungen projiziert. Die Schauspieler, im Ambiente einer Reha-Klinik ohnehin mit viel Tages- und Abendfreizeit gesegnet, agieren als ihre eigenen, bewunderungswürdig synchron sprechenden Lippendoubles.

Voilà: Jungstar Felix Kammerer ist nicht nur ein Hans Castorp, der mit himmelblauen Augen Felsklötze staunt. Er agiert bei Bedarf auch als zauberhaft schöne "Madame Chauchat", die, gebändigten Haares am ominösen "Russentisch" sitzend, dem Schnösel aus dem Flachland über die Schulter glutvolle Blicke zuwirft.

Wie denn überhaupt die Schauspieler, zwei Frauen, zwei Männer, mit ihren eigenen Ebenbildern in lauter ergiebige Zwiegespräche eintreten. Ein fürwahr königlicher Spaß: Er hätte dem ewigen Ironiker Thomas Mann gewiss ein gedämpftes Lächeln entlockt. Oder ihn zu weiterführenden Gedanken angeregt. Die diese kreuzbrave Burg-Unternehmung kategorisch verweigert.

Brave Darlegungen

Denn die mehr prosaisch gesonnenen Geister im Parkett schließen derweil Bekanntschaft mit einer unvermeidlichen Begleiterscheinung jeder epochal ausufernden Luft- und Gedankenkur: der Langeweile. Hat man über die famosen Masken des Schauspielers Markus Meyer zu Ende gestaunt, weiß man, den Mann im Kopf, mit der Aufführung, mit ihrem braven, exekutorischen Darlegungseifer nichts Rechtes anzufangen.

Als lose ideelle Klammer dient dem Spektakel das Thema Zeit: Das Ticken, das man zu hören vermeint, gehört gewiss zu der Bombe, der diese Träger einer Kultur des Räsonierens und Nichtstuns gemeinsam aufsitzen. Das heilige Zeremoniell des Fiebermessens wird von den vier Castorps annähernd in Realzeit vollzogen: Sieben Minuten muss die Befeuchtung des Thermometers währen.

Sieben Jahre mögen wie im Flug vergehen, Hans Castorps Liebeshändel, der geistige Zweikampf von Settembrini und Naphta (beide unter Zuhilfenahme umfangreicher Klebebärte dargestellt von Sylvie Rohrer), alle diese Schmalspurereignisse werden spurlos verschluckt vom Zauberbergschatten. Monströs immerhin die Episode mit dem holländischen Lebemann Mynheer Peeperkorn, den Kammerer in einen Falstaff der Alpinwelt verwandelt, einen Dämon des Blutspuckens.

Es herrscht eine blindlings sportive Begeisterung für die Unart, Epochenromane in Pillendosierung an eine dankbare Kundschaft zu verabreichen. Die Burgtheaterbühne ist jedoch zu groß, zu unförmig für eine solche Unternehmung: Letztere wäre im Kasino bestens aufgehoben.

Ohne Hinzufügung eines zündenden Gedankens bleibt selbst Thomas Manns ingeniöser Epochenbericht ein blasser Zeitvertreib: eine Art Episoden-Erzählung für Eilige, die des Sitzfleisches für ausgiebige Mann-Lektüren ermangeln. Der Jubel für die Schauspieler war würdig und recht. Die Unternehmung selbst leidet, in ihrer selbstgenügsamen Freude an Technik und Fortschritt, vielleicht nicht unter Schwindsucht. Aber an Mangelerscheinungen. (Ronald Pohl, 29.1.2023)