Turniersieger Anish Giri.

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Nodirbek Abdusattorov scheiterte knapp vor dem Ziel.

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Magnus Carlsen spielte nicht sein allerbestes Turnier.

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Zaungäste in Wijk aan Zee.

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Stellen Sie sich vor, Sie sind 18 Jahre alt und führen nach zwölf von 13 Runden beim renommiertesten Schachturnier der Welt. In Runde fünf haben Sie den Weltmeister geschlagen. In Ihrer ersten klassischen Partie gegen ihn. Mit Schwarz. Nur noch eine Partie trennt Sie davon, etwas zu schaffen, das in 85 Jahren noch niemandem vor Ihnen gelungen ist: als Teenager das "Wimbledon des Schachs" zu gewinnen. Bei Ihrem allerersten Antreten.

Der ewige Zweite

Sollte Nodirbek Abdusattorov am Sonntag ein klein wenig nervös gewesen sein – wer würde den Stab über ihn brechen wollen? Der junge Usbeke, der Ende 2021 völlig überraschend die Schnellschach-WM gewonnen hatte, war im klassischen Schach erst in den letzten paar Monaten in den Kreis der erweiterten Weltspitze aufgestiegen. Sensationell dominierte er nun das Masters von Wijk aan Zee: Vier Siege, acht Remis, keine Niederlage – so lautete die beeindruckende Zwischenbilanz. Einzig der 28-jährige Lokalmatador Anish Giri, der Weltmeister Carlsen diesmal ebenfalls bezwungen hatte, ging Abdusattorovs Tempo bis zum Schluss halbwegs mit. Vor der 13. und letzten Runde lag er nur einen halben Punkt hinter dem Sensationsmann.

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Allein: Zweiter war der mitunter als zu solide verschriene Giri hier schon ganze fünf Mal geworden, gewinnen konnte er Wijk aan Zee noch nie. Vor zwei Jahren hatte ihm völlig überraschend sein jüngerer Landsmann Jorden van Foreest die Show gestohlen, indem er Giri im innerholländischen Tiebreak um Platz eins bezwang. Anish Giri, der seit Jahren in den Top Ten der Weltspitze verkehrt und doch noch keinen ganz großen Titel holen konnte. Den Magnus Carlsen seit Jahren genau damit genüsslich aufzieht. Giri, der ewige Zweite: Würde er zum sechsten Mal Vize-Turniersieger an der Nordseeküste werden?

Knapp daneben

Im Interview nach der letzten Runde sollte Magnus Carlsen sagen, dass Nodirbek Abdusattorov ihm leidtue. Mitgefühl mit anderen Schachspielern zeigt der Weltmeister nicht allzu oft, schon gar nicht, wenn er selbst ausnahmsweise nicht Erster geworden ist. Abdusattorov aber tat an diesem Tag wohl nicht nur Carlsen, sondern der gesamten Schachwelt leid. Ein doppeltes Unglück brachte ihn um die Sensation, mit der schon alle fest gerechnet hatten, und nur für eine Hälfte davon war er verantwortlich: Der junge Usbeke wurde als Weißer in einer sizilianischen Taimanow-Variante von Jorden van Foreest ausgekontert; und Richard Rapport schoss in ausgeglichener Stellung gegen Giri einen der kapitalsten Böcke des gesamten Turniers.

Das Resultat dieser beiden Ereignisse bedeutete für den Langzeitführenden die Höchststrafe: Durch seine Niederlage musste er den parallel siegenden Anish Giri um einen halben Punkt an sich vorbeiziehen lassen, der damit plötzlich alleiniger Erster war. Platz zwei teilt Abdusattorov sich im Endklassement mit Magnus Carlsen. Der Weltmeister hatte nach seinen beiden frühen Niederlagen noch einmal ordentlich aufgedreht und schloss mit einem überzeugenden Schwarzsieg gegen einen weiteren Newcomer, Arjun Erigaisi.

Mit fünf Siegen bei sechs Remis kam Carlsen bei dem Turnier, das er insgesamt schon achtmal gewonnen hat, diesmal wie Abdusattorov mit 8 aus 13 ein. Hätte Giri nicht wie geschildert glücklich Rapport besiegt, dann hätte der Weltmeister sich mit diesem Ergebnis sogar noch für ein Tiebreak um den Turniersieg qualifiziert. Und wer Carlsen in letzter Zeit Schnellschach spielen gesehen hat, wird konstatieren müssen: Wahrscheinlich hätte der Norweger dieses Tiebreak dann auch noch gewonnen.

Erbsensuppe

Für Wijk aan Zee 2023 aber hat Schachgöttin Caissa einen neuen Sieger auserkoren. Einen, der schon nicht mehr daran geglaubt haben mag, dass es mit dem ganz großen Erfolg bei seinem Heimturnier doch noch irgendwann klappt. Abgesehen vom Gewinn einer Weltmeisterschaft sei dieser Erfolg so ziemlich das Größte, was man im Schach erreichen könne, sagte ein ziemlich entspannter Anish Giri in seinem Siegerinterview. Da wird dem immer zu Scherzen aufgelegten niederländischen Vorkämpfer kaum jemand widersprechen. Schon gar nicht Nodirbek Abdusattorov, den die folgende Binsenweisheit wenig trösten dürfte: Er hat mit seinen 18 Jahren ja noch so viel Zeit.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Teenager und nach 16 Tagen in Wijk aan Zee haarscharf daran vorbeigeschrammt, Schachgeschichte zu schreiben: Würden Sie nach der Siegerehrung noch bleiben, um die traditionelle niederländische Erbsensuppe einzunehmen? Niemand dürfte es dem Usbeken verübeln, sollte er sofort abgereist sein. Er wird ziemlich sicher wiederkommen. (Anatol Vitouch, 30.1.2023)