In den Wäldern in Myanmar formieren sich die jungen Leute, die gegen das Militärregime vermehrt zur Waffe greifen.

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Sieben- bis achtmal am Tag zückt Harry Myo Lin sein Handy. Dann kommt eine Anfrage rein, ein Profil zu löschen. Der Besitzer oder die Besitzerin jenes Profils ist vielleicht festgenommen worden. Vielleicht ist er oder sie auch in den Dschungel gegangen. Oder gestorben. Jedenfalls sollen die Daten, die auf dem Handy zu finden sind, nicht in die falschen Hände geraten.

In den Dschungel gehen – das heißt in Myanmar zu kämpfen, aus dem Untergrund gegen das mächtige Militär. Dieses wird auch Tatmadaw genannt und hat seit einem Putsch vor zwei Jahren wieder die Kontrolle im Staat übernommen.

Harry sitzt in einer Wohnung in Wien und tippt flott auf seiner Handytastatur. Mit den großen sozialen Netzwerken gibt es eine Übereinkunft, rasch zu handeln. Normalerweise dauert es bei Facebook 48 Stunden, derartige Anfragen zu prüfen. In den Fällen, die Harry übermittelt, geschieht es innerhalb von Minuten.

Schon vor dem Putsch war der 31-Jährige in Myanmar Aktivist. Er arbeitete für verschiedene NGOs gegen Hass, online und offline, und war im interreligiösen Dialog tätig. Im vorwiegend buddhistischen Myanmar bedeutet das, vor allem für die Rechte muslimischer Minderheiten im Land zu kämpfen, wie etwa die der Rohingya – ein heikles Terrain, auch vor dem Putsch. Er selbst ist auch Muslim.

Rückkehr zu gefährlich

Richtig frei war man in Myanmar nie. Aber seit dem 1. Februar 2021 hat die Repression ein ganz neues Niveau erreicht: "Davor durfte man ihnen zwar nicht wehtun, aber man konnte sie ärgern", meint Thurein, der lieber nur seinen Vornamen nennen will. Harry und Thurein kennen sich noch aus der Heimat in Zentralmyanmar, nun sind sie seit mehreren Monaten in Wien. Auch Min, der ebenfalls anonym bleiben will, kam nach dem Putsch nach Wien. Eigentlich wollte er nur fürs Studium nach Österreich kommen. Doch eine Rückkehr ist nun nicht mehr möglich. Zu Hause war er mit einer mittlerweile verbotenen NGO affiliiert.

Alle drei wurden von dem Putsch vor zwei Jahren überrascht. Noch am selben Tag erreichten Thurein die ersten Anrufe: "Kannst du helfen?" Diese oder jene Person musste in Sicherheit gebracht werden. So organisierte er ab jenem Nachmittag Transporte, um Menschen, die der Tatmadaw schon länger ein Dorn im Auge waren, wegzubringen.

Gleich am Morgen des Putsches wurden so prominente Personen wie Aung San Suu Kyi, der bis dato amtierende Präsident Win Myint oder andere Mitglieder ihrer NLD-Partei verhaftet. Eine lokale NGO zählt rund 17.000 Menschen, die seit dem Putsch inhaftiert worden sind, etwa 13.000 von ihnen befinden sich weiter in Haft. Die Uno hat wiederholt Folter, willkürliche Anklagen und auch außergerichtliche Hinrichtungen angeprangert.

Kontrolle im Landesinneren

Auch Harry war einer von denen, die in Sicherheit gebracht werden mussten. Über die Grenze nach Thailand zu kommen war nicht das Problem, erinnert er sich. "Zehn Minuten dauert das, wenn man die richtigen Leute kennt." Doch der Weg hin zur Grenze, der ist gefährlich. Denn im Landesinneren übt die Junta breite Kontrolle aus. Je näher man der Grenze kommt, desto weniger kann sie sich durchsetzen.

Das änderte sich aber seit dem Putsch. Mittlerweile mehrt sich auch der Widerstand im Landesinneren. Vielerorts haben sich bewaffnete Widerstandsgruppen gebildet. Etliche junge Leute gehen "in den Dschungel", um zu kämpfen. Auch Thurein hatte das überlegt. Die Eltern waren aber strikt dagegen, erzählt der Mittzwanziger. Der Dschungel sei tabu. Was er sonst macht, wollten sie nicht wissen.

Die Entscheidung wurde ihm schließlich abgenommen. Nachdem eine Nachbarin ihn ans Regime verpfiffen hatte, buchten ihm seine Eltern einen Flug nach Bangkok. Weil er schon zuvor mit dem Gedanken gespielt hatte, in Österreich zu studieren, landete er am Ende in Wien. Sechs Monate hat er sich bei niemandem gemeldet, aus Scham darüber, geflohen zu sein.

Aung San Suu Kyi am Infoscreen

Mittlerweile hat er dutzenden Menschen geholfen, sich ebenfalls in Sicherheit zu bringen. In Wien fühlen sich die drei im Großen und Ganzen sicher, wenn sie auch immer wieder mit Rassismus konfrontiert sind, wie etwa Min erzählt. Er und Thurein würden gerne zurück nach Myanmar, doch das ist unter den Umständen nicht möglich.

Es bedeutet ihnen viel, wenn es hierzulande zumindest ein Bewusstsein dafür gibt, was in ihrer Heimat passiert. Als Aung San Suu Kyi einmal auf dem Infoscreen in der U-Bahn auftauchte, war Thurein völlig überrascht: "Ich dachte, das wäre hier allen egal."

Auch Harry betont: Wenn diesen Sommer Wahlen über die Bühne gehen, dann muss allen klar sein, dass diese nur eine Farce sind und nichts mit der Demokratie zu tun haben, in die sie vor dem Putsch so viel Hoffnung gesetzt hatten. (Anna Sawerthal, 1.2.2023)