Jedes Mal, wenn ein Wähler oder eine Wählerin das Wahllokal betritt, setzen sich die mehr als ein Dutzend Journalisten in Bewegung, filmen die Stimmabgabe und bitten um Interviews. Sie sind am Sonntag deutlich in der Überzahl in einer Schule im Stadtteil Bardo, die als Wahllokal dient und keine hundert Meter Luftlinie vom Parlament entfernt liegt.

Die Wahlbeteiligung lag bei mageren 11,3 Prozent.
Foto: IMAGO/Hasan Mrad

Dort sollen die neuen Abgeordneten im März ihre Arbeit aufnehmen. Zurzeit ist es noch vom Militär abgeriegelt, seit Tunesiens Präsident Kais Saied vor rund anderthalb Jahren den Notstand ausgerufen, die Arbeit des Abgeordnetenhauses auf Eis gelegt und weite Teile der Macht an sich gerissen hatte.

In 131 Wahlkreisen hatte beim ersten Wahlgang im Dezember kein Kandidat eine absolute Mehrheit bekommen, dort gibt es jetzt Stichwahlen. Es sind hauptsächlich ältere Männer, die ihre Stimme abgeben.

Enthusiasmus ist weg

"Ich habe Vertrauen in die Veränderung", sagt einer von ihnen. Die Situation sei so schlecht, dass irgendetwas passieren müsse, daher sei er wählen gegangen. Im Café um die Ecke des Wahllokals sitzen drei junge Männer. Die Wahlen beträfen sie nicht, und in die Politik hätten sie kein Vertrauen mehr, egal, wer da nun im Parlament sitze, erklären sie. "Die Freude, der Enthusiasmus von früher, seine Stimme abgeben zu dürfen, der ist weg."

Nach dem Debakel im ersten Wahlgang hatte Präsident Kais Saied noch gemahnt, man solle ein Spiel nicht nach der ersten Halbzeit bewerten. Doch ersten Angaben der Wahlbehörde zufolge lag die Wahlbeteiligung bei 11,3 Prozent, ähnlich niedrig wie im ersten Durchgang.

Die Wahlen haben den Präsidenten und sein Projekt politisch geschwächt. Die Popularität von 2019, als er mit fast drei Vierteln der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde, und auch die Unterstützung, als er inmitten einer tiefen politischen Krise im Juli 2021 die Macht an sich riss, hat merklich nachgelassen.

Neuwahlen gefordert

Stattdessen haben die verschiedenen Oppositionsgruppen nun Oberwasser. Sie lehnen den ganzen Prozess seit der Machtübernahme Kais Saieds 2021 ab und boykottierten die Abstimmungen, um ihnen nicht zusätzliche Legitimität zu verleihen. Sie fordern nun den Rückzug Saieds und vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.

Gleichzeitig versuchen der Gewerkschaftsbund und weitere drei Organisationen der Zivilgesellschaft, zwischen den verschiedenen Konfliktparteien zu vermitteln. Sie wollen so einen friedlichen Ausweg aus der politischen Krise ermöglichen.

In letzter Zeit hat sich außerdem die wirtschaftliche Situation in Tunesien zusehends verschlechtert. Die Inflation und die Staatsverschuldung sind gestiegen, immer wieder kommt es zu Versorgungsengpässen bei Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Benzin.

Die Zahl der Tunesierinnen und Tunesier, die versuchen, irregulär nach Europa zu migrieren, ist so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Das Land stehe kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, so die Ratingagentur Moody’s, die Tunesien letzte Woche erneut abgewertet hatte. (Sarah Mersch aus Tunis, 31.1.2023)