Das Poltern des wahlkämpfenden türkischen Präsidenten war am Montag nicht nur im hohen Norden, sondern wohl auch im Kreml deutlich vernehmbar. Seit vergangene Woche ein Rechtsextremist auf einer Demonstration in Stockholm öffentlich eine Ausgabe des Koran verbrannte, hat sich Recep Tayyip Erdoğan ganz auf den angestrebten Nato-Beitritt Schwedens eingeschossen.

Schwedens Premierminister Ulf Kristersson (links) muss weiter auf das Placet des türkischen Präsidenten Erdoğan hoffen.
Foto: EPA / Necati Savas

Während 28 der 30 Mitgliedsstaaten, darunter die USA, den Beitritt Schwedens und Finnlands längst ratifiziert haben, legt sich – neben Ungarn – vor allem die Türkei weiter quer. Die neueste Volte Erdoğans: Spaltung. "Wir könnten Finnland eine andere Botschaft übermitteln", polterte er im türkischen Fernsehen. "Schweden wird schockiert sein, wenn es unsere Antwort sieht." Der deutsche Nato-Experte Simon Koschut erklärt, was die Beweggründe Ankaras sein könnten und ob Schweden nun Angst haben muss.

In einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP) setzt sich der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Asien für eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine ein. Sicherheit sei eine globale Frage. Was in Europa passiert, sei auch für Asien von Bedeutung, so Stoltenberg.
DER STANDARD

STANDARD: Warum hält die Türkei Schweden schon so lange hin?

Koschut: Die Koran-Verbrennung in Schweden ist jetzt ein Anlass, den Erdoğan natürlich dankend aufnimmt. Viele der politischen Forderungen, die er bisher vorgebracht hat, sind von Schweden ja schon erfüllt worden, betreffend die Zusammenarbeit mit Terrorgruppen (etwa die kurdische Miliz YPG in Syrien, die Ankara als Terrorgruppe betrachtet, Anm.) oder das Waffenembargo (gegen die Türkei nach dem Militäreinsatz in Syrien 2019, Anm.). Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es für Erdoğan nur mehr um innenpolitische Vorteile vor der Wahl am 14. Mai geht. Er will sich als Verteidiger der Türkei und des Islam darstellen.

STANDARD: Was bedeutet diese Vetopolitik für die Sicherheit Schwedens?

Koschut: Erst mal nicht viel. Russland hat offenbar weder die Absicht noch Pläne, Schweden zu attackieren. Allerdings befindet sich Schweden seit dem Beitrittsgesuch in einer völkerrechtlichen Grauzone, das heißt, dass der Beistandsartikel 5 der Nato offiziell noch nicht gilt. Gleichzeitig hat man sich in eine sicherheitspolitisch prekäre Lage manövriert, weil man den neutralen Status bereits abgegeben hat, ohne schon über Sicherheitsgarantien zu verfügen.

STANDARD: Schützt die Nato Schweden und Finnland trotzdem schon jetzt?

Koschut: Die Nato hat schon vor dem Beitritt Schwedens – und auch Finnlands – Fakten geschaffen. Beide Länder sind bereits in die Nato-Militärstrukturen integriert, nehmen an Übungen und Manövern teil, profitieren vom Nato-Raketenschirm und von der Aufklärung und Informationsweitergabe. Unabhängig davon haben Großbritannien und die USA Schweden schon bilateral Sicherheitsgarantien ausgesprochen, auch ohne die Nato. Eine Sicherheitsgarantie durch die USA wäre mindestens so viel wert wie ein Nato-Beitritt.

Simon Koschut: Risse in Nato spielen Putin in die Hände.
Foto: ZU/Samuel Groesch

STANDARD: Könnte ein Nato-Land auch die Verteidigung eines anderen Nato-Landes per Veto blockieren?

Koschut: Tatsächlich muss auch die Ausrufung des Artikel 5 (Beistandspflicht aller Nato-Länder bei einem Angriff auf ein Nato-Land, Anm.) einstimmig beschlossen werden. Das ist bisher nur nach den Terroranschlägen 2001 passiert, und auch damals war man in Brüssel nervös, ob das auch wirklich klappt. Es gibt hier keinen Automatismus. Das schließt aber nicht aus, dass einzelne Staaten dem angegriffenen Land zu Hilfe kommen.

STANDARD: Finnland überlegt derweil, notfalls auch ohne Schweden der Nato beizutreten. Ist das realistisch?

Koschut: Finnland ist in einer äußerst komplizierten Lage, schon deshalb, weil es durch seine Grenze mit Russland deutlich exponierter ist als Schweden. Erdoğan versucht, einen Keil zwischen Finnland und Schweden zu treiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Finnland allein der Nato beitritt, dafür ist das Spiel Erdoğans einfach zu durchschaubar. Nach der Wahl in der Türkei im Mai könnte sich die Lage grundlegend ändern. Der Nato-Gipfel, bei dem Finnland und Schweden aufgenommen werden sollten, ist erst im Juli. In der heißen Wahlkampfphase scheint mir eine Einigung mit der Türkei äußerst schwierig.

STANDARD: Ist die Nato so geeint, wie seit dem russischen Überfall auf die Ukraine behauptet wird?

Koschut: Diese Einheit der Nato, die wir direkt nach Kriegsbeginn gesehen haben, hat mittlerweile deutliche Risse abbekommen. Wie der Beitrittsprozess Schwedens und Finnlands abläuft, erzeugt in der Öffentlichkeit ein ziemlich ambivalentes Bild. Genau das spielt Russland und Wladimir Putin natürlich in die Hände. (Florian Niederndorfer, 31.1.2023)