Tomohiko Taniguchi, ehemaliger Sonderberater des früheren japanischen Ministerpräsidenten Shinzō Abe, geht in seinem Gastkommentar auf die neue militärische Ausrichtung Japans ein.

Die Begeisterung, mit der sich Japan der Wiederbewaffnung verschrieben hat, hat seine Verbündeten und internationalen Partner überrascht. Im letzten Monat hat Japans Ministerpräsident Fumio Kishida detaillierte Pläne für die Verdoppelung der Verteidigungsausgaben in den nächsten fünf Jahren vorgelegt. Sie lassen keinen Zweifel an der Entschlossenheit des Landes, zur Abschreckung gegen Chinas expansionistische Ambitionen seine militärischen Kapazitäten auszubauen.

Japans Premierminister Fumio Kishida will die Verteidigungsausgaben drastisch erhöhen.
Foto: AP/Jose Luis Magana

Historische Neuausrichtung

Japans neue strategische Vision markiert den Höhepunkt eines langfristigen Wandels, der unter Kishidas im letzten Juli ermordeten Amtsvorgänger Shinzō Abe begann. Während Abes Amtszeit – von seiner Rückkehr an die Macht im Dezember 2012 bis zu seinem Rücktritt im September 2020 – modernisierte Japan seine Militärdoktrin und steigerte seine Verteidigungsausgaben deutlich. Abe richtete zudem einen Nationalen Sicherheitsrat auf Kabinettsebene und zu dessen Unterstützung ein Nationales Sicherheitssekretariat ein, verschlankte durch Bildung der Beschaffungs-, Technologie- und Logistikbehörde ATLA das Beschaffungswesen der Streitkräfte und bemühte sich – wenn auch vergeblich – um eine Änderung der pazifistischen japanischen Verfassung.

"Sofern es keine ausreichenden strategischen Reserven anlegt und aufrechterhält, wird sich Japan nicht verteidigen können."

In ihrer Gesamtheit markierten Abes Maßnahmen eine historische Neuausrichtung der Verteidigungspolitik und regionalen Aufstellung Japans. Die Sicherheit des Landes sollte nicht länger von Wunschdenken, vorsätzlicher Blindheit und der Abhängigkeit von den USA bestimmt sein. Vor Abe hätte sich das japanische Militär, wenn China ein US-Kriegsschiff in Nähe der japanischen Hoheitsgewässer angegriffen hätte, nicht eingemischt. Abe lehnte diesen absurden Ansatz ab und drängte Japan, eine zentrale Rolle im Indopazifik zu übernehmen. Würden die USA und China heute wegen Taiwans Krieg führen, könnte Japan mit dem US-Militär kooperieren. In einer Art Rollentausch beschützt das japanische Militär nun die Schiffe und Flugzeuge der USA in der Region.

Kishidas ehrgeizige Verteidigungspolitik, die eine Erhöhung der Militärausgaben auf 43 Billionen Yen (305 Milliarden Euro) bis 2027 sowie eine Überarbeitung der nationalen Sicherheitsstrategie Japans umfasst, um dem Land die Fähigkeit zu Gegenschlägen zu verschaffen, setzt viele von Abes Ideen um. Sie weitet sie zudem auf vier bedeutsame Weisen aus.

"Größte strategische Herausforderung"

Erstens redet die neue Sicherheitsdoktrin Klartext. Als Japan 2013 seine allererste nationale Sicherheitsstrategie veröffentlichte, wurden Chinas Übergriffe auf Japans Hoheitsgewässer und Luftraum im Bereich der Senkaku-Inseln noch als "Anlass zur Sorge für die internationale Gemeinschaft einschließlich Japans" bezeichnet. Die überarbeitete Strategie jedoch bezeichnet China – im Einklang mit dem Sprachgebrauch der USA – als "nie dagewesene und größte strategische Herausforderung" für Japan. Wie diese Veränderung deutlich macht, zielt Japans militärische Aufrüstung in erster Linie auf eine Abschreckung des chinesischen Expansionismus.

Zweitens sieht die neue Strategie die Bevorratung mit Treibstoff und Munition vor. Sie nimmt damit ein Problem in Angriff, vor dem Abe wiederholt gewarnt hatte. Während Japan im Laufe des vergangenen Jahrzehnts eine Menge Kampfflugzeuge, Schiffe und Kampffahrzeuge angeschafft hat, fehlt es ihm noch immer an den nötigen strategischen Vorräten und sicheren Lagereinrichtungen, um einen langen Krieg durchzustehen.

Natürlich ist die Bevorratung mit Munition und Treibstoff deutlich weniger glamourös als der Kauf US-amerikanischer Kampfflugzeuge wie der F-35 oder Tomahawk-Marschflugkörper mit hoher Reichweite. Doch während massive Waffenkäufe Japan mit Sicherheit helfen werden, der dreifachen Bedrohung durch Russland, China und Nordkorea zu begegnen, ist seine strategische Position eindeutig viel gefährlicher als die aller anderen G7-Mitglieder. Sofern es keine ausreichenden strategischen Reserven anlegt und aufrechterhält, wird sich Japan nicht verteidigen können.

Ungeschriebene Regel

Drittens besagte eine ungeschriebene Regel des US-japanischen Verteidigungsbündnisses, dass alle neuen militärischen Mittel unter der Kontrolle der Amerikaner stehen sollten. Vor kurzem jedoch haben Japan, das Vereinigte Königreich und Italien ein gemeinsames Projekt zur Entwicklung eines neuen modernen Kampfjets angekündigt. Das US-Verteidigungsministerium gab daraufhin umgehend eine Erklärung heraus, in der es die neue Partnerschaft unterstützte. Dies spiegelt die zunehmende militärische Zusammenarbeit zwischen den USA, Japan, den europäischen Ländern, Australien und Indien wider.

Viertens schließlich besagt die überarbeitete nationale Sicherheitsstrategie, dass "Japan Kriegsvertriebene aktiv aufnehmen wird". Diese Anspielung auf eine mögliche chinesische Invasion Taiwans sowie die implizierte Bereitschaft zur Aufnahme der vielen taiwanesischen Bürgerinnen und Bürger, die in einem derartigen Fall sicherlich flüchten würden, haben nicht viel Aufmerksamkeit erregt, sind jedoch bahnbrechend.

Erbitterte Parlamentsdebatten

Wäre Abe noch am Leben, so wäre er erfreut, dass Kishidas Regierung viele der Ziele verfolgt, die er selbst zu erreichen suchte. Während die neue nationale Sicherheitsagenda nicht so weit geht, die bestehenden Beschränkungen für den Einsatz von Offensivwaffen zu ändern, betont sie die Notwendigkeit zur Entwicklung von Fähigkeiten zu Gegenschlägen, die Japan in die Lage versetzen würden, im Falle eines Angriffs Ziele in anderen Ländern zu treffen.

Doch während die vorgeschlagene Erhöhung der Militärausgaben breite öffentliche Unterstützung genießen zu scheint, wird die Frage, wie sie bezahlt werden soll, höchstwahrscheinlich Gegenstand erbitterter Parlamentsdebatten werden. Kishidas Plan, die zusätzlichen Ausgaben über Steuererhöhungen zu finanzieren, hat bereits starken Widerstand provoziert, und das sogar in seiner eigenen Partei. Kishidas Kompetenz wird im Laufe der kommenden Monate unzweifelhaft auf die Probe gestellt werden, und Gleiches gilt für Japans neugewonnene strategische Entschlossenheit. (Tomohiko Taniguchi, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 1.2.2023)