Geht es nach Forschenden von Fraunhofer Austria in Graz, soll der Hammer bald auch im virtuellen Gerichtssaal fallen.
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Ich bin keine Katze! 2021 ging ein Video viral, das eine gerichtliche Anhörung per Videokonferenz zeigte. Einer der Anwälte kämpfte dabei schwer mit der Technik. Ein Filter, der den Videostream des Teilnehmers verfremdete, ließ diesen als süße Katze erscheinen – und machte den sonst wohl wenig unterhaltsamen Termin zum surrealen Ereignis. Eine Aufzeichnung davon entlockte nicht nur Millionen Menschen im Internet einen Lacher, man konnte zumindest auch zwei Dinge daraus lernen: Zum einen mochte überraschen, dass Gerichtstermine mittlerweile durchaus auch online durchgeführt werden. Zum anderen: Gerade bei formellen Meetings dieser Art ist es besonders wichtig, dass die Technik problemlos funktioniert und keine Peinlichkeiten erzeugt.

Die Pandemie machte Videokonferenzen in vielen Berufen zum Alltag. In manchen Weltgegenden wurden Gerichtstermine aber auch schon davor online abgehalten – beispielsweise in flächengroßen Staaten wie Australien oder Kanada, wo die Online-Termine lange Anreisen ersetzen können. Erste spezialisierte Anwendungen bestehen bereits, und zweifellos wird der Trend zum virtuellen Gerichtstermin weltweit noch wachsen. Vielleicht werden dabei nicht hochrangige Mord- und Betrugsdelikte verhandelt. Bei vielen kleineren Angelegenheiten oder diversen Terminen rund um eine Verhandlung wird das Online-Meeting aber zur ernst zu nehmenden Möglichkeit.

Ein Virtual-Court-System für alle

Davon ist auch Volker Settgast vom Geschäftsbereich Visual Computing von Fraunhofer Austria Research in Graz überzeugt. Im Austausch mit Juristen aus Australien und Kanada, die Erfahrung bei Online-Gerichtsterminen mitbringen, ist er mit seinem Team dabei, ein sogenanntes Virtual-Court-System zu entwickeln. "Seit ein paar Jahren wissen wir alle, dass Videokonferenzen zwar funktionieren, dass sie aber auch sehr anstrengend sein können", resümiert Settgast. "Wir stellen uns die Frage, wie wir dieses Setting für die Kommunikation in Gerichtsverhandlungen verbessern können."

Viele der Videokonferenz-Anwendungen, die heute entwickelt werden, sind auf Virtual-Reality-Brillen ausgelegt, die Anwendende voll immersiv in eine künstliche Umgebung verfrachten. Der Ansatz von Fraunhofer Austria möchte dagegen bei der universal verfügbaren, konventionellen Bildausgabe am Monitor bleiben, hier allerdings ein Element entscheidend verbessern: Eine Person soll ganz selbstverständlich erkennen können, wenn sich ihr eine andere zuwendet und Augenkontakt herstellt.

Gezielter Blickkontakt

Das ist ein zwischenmenschliches Element, das aktuellen Videokonferenzen fehlt und mutmaßlich zu ihrem ermüdenden Effekt beiträgt. Die Forschenden wollen die Fähigkeit, Augenkontakt herzustellen, auch in eine Zukunft tragen, in der man sich durch Avatare in einer virtuellen Umgebung vertreten lässt.

Settgast und Team experimentierten anfangs mit einem Setting von mehreren Monitoren und Webcams. Jede Webcam entsprach dabei einem Gesprächspartner, dem man sich auf diese Art gezielt zuwenden konnte. Das funktionierte zwar, war aber eine Lösung, die nicht nur viel Hardware, sondern auch eine große Bandbreite zur Datenübertragung benötigte. Die Entwickler erweiterten deshalb das Forschungsvorhaben: "Wir haben dann damit experimentiert, das Gerichtssetting komplett in den virtuellen Raum zu versetzen", schildert Stettgast. "Es hat sich herausgestellt, dass das für Juristen durchaus interessant ist."

Dreidimensionaler Gerichtssaal

Die Entwickler schufen also eine 3D-Visualisierung eines Gerichtssaals – ganz so, als würde man einen Raum in einem Computerspiel gestalten. Avatare – 3D-Figuren, die die reale Person repräsentieren – wurden zu Stellvertretern der an der Verhandlung beteiligten Menschen. Die Verhandlungsteilnehmer können über eigene Zugänge in ihre Rollen, etwa Richter, Zeuginnen, Verteidiger oder Staatsanwältinnen, schlüpfen. Auch in diesem Setting kann man sich noch Menschen zuwenden und – zumindest ihren Avataren – in die Augen sehen. Mittels Eyetracking-Anwendung wird in dem System erfasst, wohin genau ein Nutzender auf seinem Bildschirm sieht. Dieser Blick wird in eine Bewegung des Avatars verwandelt, der sich dann der entsprechenden Person zuwendet und sie anblickt. Settgast und Team arbeiten zudem auch daran, Sprechbewegungen und Mimik auf den virtuellen Stellvertreter zu übertragen. In Ansätzen funktioniere das bereits, sagt der Forscher.

Doch kann es tatsächlich ausreichen, nur einen virtuellen Repräsentanten in den Gerichtssaal zu schicken? Die Entwickler glauben, dass der Einsatz von Avataren in vielen Situationen sogar ein Vorteil sein kann. Vorurteile, die durch das Aussehen, die Hautfarbe oder das Auftreten einer Person entstehen, können im wahrsten Sinne ausgeblendet werden, führt Settgast ins Treffen. Zudem könnten Situationen entstehen, bei denen Personen anonym angehört werden sollen, was in diesem Setting leicht herstellbar sei. In Zukunft, wenn soziale Medien zu virtuellen 3D-Welten werden, sei die Nutzung von Avataren zudem ohnehin der Normalfall.

Hybride Systeme

"Für die Verhandlung kleinerer Angelegenheiten wie vielleicht eines Nachbarschaftsstreits ist die Frage, wie exakt die Menschen abgebildet sind, gar nicht so wichtig, sagen uns die Experten aus der Justiz", betont Settgast. "Wichtiger ist, dass die Sprachkommunikation akkurat funktioniert." Zudem wäre es bei Bedarf natürlich auch möglich, hybride Systeme zu entwickeln, bei denen je nach Situation zwischen einer Repräsentation durch Avatare und einem konventionellen Videostreaming gewechselt wird.

Tests bei Fraunhofer mit Juristen aus verschiedenen Ländern, die über den Virtual-Court-Prototyp zu einer Probeverhandlung verbunden waren, zeigten, dass der Ansatz grundsätzlich funktioniert. Funktionalitäten und optisches Erscheinungsbild können einfach an lokale Justizkulturen verschiedener Länder angepasst werden, sagt Settgast. Das Teilen von Dokumenten, Aufnahmen von Beweismitteln oder Tatortrekonstruktionen können – ähnlich wie in aktuellen Videokonferenzsystemen – leicht implementiert werden. Auf der Hand liegt, dass Sicherheit, Datenschutz und Maßnahmen gegen Manipulation ebenfalls sichergestellt sein müssen. Im Jahr 2023 soll ein Entwicklungspartner für die Software gefunden werden. (Alois Pumhösel, 13.2.2023)