Auch für das Streikrecht per se, das die Regierung per Gesetz einschränken will, wird demonstriert.

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London – In Großbritannien hat am Mittwoch der größte Streik seit mehr als einem Jahrzehnt begonnen. Zeitgleich legten Lehrerinnen und Lehrer, aber auch etliche Lokführer und Beschäftigte im öffentlichen Dienst im Kampf um höhere Löhne ihre Arbeit nieder. Die Gewerkschaft National Education Union ging davon aus, dass der Unterricht an 85 Prozent der Schulen in England und Wales betroffen sein würde – demnach könnten mehr als 100.000 Lehrer streiken.

Bildungsministerin Gillian Keegan wies darauf hin, dass Gespräche mit den Gewerkschaften im Gange seien. Über den Streik sagte sie dem Sender Times Radio Mittwochfrüh: "Ich bin enttäuscht, dass es dazu gekommen ist, dass die Gewerkschaften diese Entscheidung getroffen haben. Es ist nicht der letzte Ausweg."

Weitere Ausstände angekündigt

Lehrer und Lokführer, Hochschuldozenten und Regierungsmitarbeiter, Busfahrer und Sicherheitskräfte streiken nun gleichzeitig. Die Unzufriedenheit ist in allen Branchen enorm. Für die kommenden Tage sind bereits weitere Ausstände angekündigt, am Montag und Dienstag etwa erneut vom Pflegepersonal des Gesundheitsdiensts NHS. Für weitere Kopfschmerzen der konservativen Regierung von Premierminister Rishi Sunak dürfte sorgen, dass kürzlich auch Feuerwehrleute für Streiks stimmten. Die Streikenden eint in erster Linie die Forderung nach einer inflationsgerechten Anhebung ihrer Löhne. Um gut zehn Prozent sind die Verbraucherpreise zuletzt gestiegen.

Die Regierung bietet etwa Lehrerinnen und Lehrern fünf Prozent mehr Lohn. Viel zu wenig, schimpfte die Lehrergewerkschaft NEU und betonte: "Es geht nicht um eine Gehaltserhöhung, sondern um die Korrektur historischer Reallohnkürzungen." Seit 2010 sei der Reallohn um 23 Prozent gesunken, viele Lehrkräfte würden wegen schlechter Bezahlung aus dem Job ausscheiden – das erhöht den Druck auf die, die bleiben, noch mehr.

Den Lehrkräften schließen sich zehntausende Beschäftigte von 150 Hochschulen an, außerdem Lokführer von 14 privaten Bahnunternehmen. Dazu kommen etwa 100.000 Mitarbeiter des öffentlichen Diensts aus 124 verschiedenen Regierungsbehörden, aber auch Fahrschulprüfer.

Regierung will per Gesetz Streikrecht einschränken

Die Regierung lehnt Nachverhandlungen ab. Premier Sunak betonte zwar, seine Tür sei immer offen für Verhandlungen. Für Gehaltsgespräche scheint das aber nicht zu gelten. Der 42-Jährige warnte wiederholt, eine inflationsgerechte Anhebung würde den "Teufelskreis" immer weiter steigender Verbraucherpreise nur antreiben.

Den Unmut der Beschäftigten treibt ein umstrittenes Regierungsvorhaben an. Sunak und sein Wirtschaftsminister Grant Shapps haben die ständigen Arbeitskämpfe seit dem vorigen Sommer satt und wollen nun per Gesetz das Streikrecht einschränken. Für Polizisten, Feuerwehrleute, NHS-Kräfte oder Bahnpersonal sollen dann strikte Beschränkungen gelten. Sunak argumentiert, dass damit die Grundversorgung gewährleistet werden solle.

"Die Menschen können nicht frei wählen, wann sie einen Rettungswagen oder die Feuerwehr benötigen", begründete Shapps seinen Entwurf, der eine faire Balance zwischen Streikrecht und den Nöten der Bevölkerung biete. Am Montag nahm das von den Tories dominierte Unterhaus das Gesetz in dritter Lesung an. Doch im Oberhaus werden Widerstände erwartet. Vor allem die Gewerkschaften kritisieren die Pläne scharf.

"Schützt das Streikrecht"-Tag

Das Vorhaben sei "undemokratisch, nicht durchführbar und mit ziemlicher Sicherheit illegal", schimpfte der Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds TUC, Paul Nowak. Die Gewerkschaften haben den Großstreiktag zum "Schützt das Streikrecht"-Tag erklärt. Landesweit sind dutzende Proteste geplant. Mit dem Gesetz müssten Arbeitnehmer fürchten, ihre Jobs zu verlieren, warnt auch die Opposition. Labour-Vize Angela Rayner nennt das Gesetz den "Feuert-die-Pflegekräfte-Entwurf" – und trifft damit offenbar einen Nerv. In Umfragen unterstützt eine Mehrheit die Streikenden. Schuld am Chaos ist in den Augen vieler die Regierung.

Konnten die Konservativen in der Vergangenheit wiederholt die Labour-Partei, die eng mit den Gewerkschaften verwoben ist, für Streikfolgen verantwortlich machen, zieht dieser Ansatz nach Einschätzung von Beobachtern nicht mehr. Zu viele Menschen sind selbst von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen betroffen. "Wegen der Lebenskostenkrise kann man diese Streiks nicht mehr als ideologiegetrieben darstellen", sagte James Frayne vom Beratungsunternehmen Public First dem Online-Portal Politico.

Tories wollen "hart bleiben"

Vielmehr drückt die empfundene Sturheit der Regierung auf ihre Umfragewerte. Seit Monaten liegt Labour klar in Führung, eine Kehrtwende ist bisher nicht absehbar. Stand jetzt müssten die Tories bei der für 2024 geplanten Parlamentswahl ein Debakel befürchten.

Dennoch: Nachgeben werde Sunak nicht, meinen Parteikollegen. Von ihnen bekommt der Premierminister vielmehr Rückendeckung. "Wir müssen die Nerven bewahren", zitierte Politico einen Tory-Abgeordneten. Die Inflation werde bald weiter sinken, damit sinke der Druck auf die Verbraucher. "Deshalb müssen wir so hart wie möglich bleiben." (APA, 1.2.2023)