Phenix Kühnert: "In meinen Teenagerjahren habe ich mich oft einfach falsch gefühlt."

Foto: Regine Hendrich

Transidentität ist das Genderthema der Stunde. Kaum ein anderes regt derzeit dermaßen auf. In Deutschland liegt das unter anderem an dem von der Ampelkoalition geplanten Selbstbestimmungsgesetz. Demnach sollen Transpersonen künftig unkompliziert bei Ämtern ihren Geschlechtseintrag ändern können. Die nötigen psychiatrischen Gutachten sollen künftig nicht mehr nötig sein. Kritiker:innen sehen hierbei Probleme, zum Beispiel für Betreiber:innen von Frauenräumen wie etwa Saunas. Kund:innen könnten sich durch Transfrauen gestört fühlen.

Das wirkt im Vergleich zu vielem, was Phenix Kühnert aus ihrem Alltag erzählt, wie ein Luxusproblem. Die Autorin, Podcasterin und Model hat vor knapp einem Jahr das Buch "Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau. Über trans sein und mein Leben" (Haymon-Verlag) veröffentlich. Darin erzählt sie etwa davon, wie sie bei der Hausärztin mit "Herr Kühnert" aufgerufen wird und sich sogleich wie ein "Alien" fühlt. Oder wenn sie wegen eines kurzen "Hallos" aufgrund ihrer tiefen Stimme Angst hat, "erkannt" zu werden.

Phenix Kühnert ist noch immer mit Lesungen unterwegs – und war kürzlich in Wien. Ein Gespräch über Bedrohungen durch Anderssein, Identität und die Unmöglichkeit, nicht trans zu sein.

STANDARD: Vor nicht ganz einem Jahr erschien Ihr Buch. Wie haben Sie die Zeit erlebt, seit Sie doch sehr persönliche Aspekte über Ihre Transidentität veröffentlich haben?

Kühnert: Sehr besonders war für mich die Zeit, kurz bevor das Buch erschienen ist. Damals habe ich realisiert, dass all das, was ich aufgeschrieben habe, gedruckt wird und bei den Leuten im Regal steht. Und dass ich nicht mehr schnell loslaufen kann und diese Bücher wieder einsammeln kann, falls ich jetzt doch etwas nicht mehr gedruckt haben möchte. Aber ich habe es dann letztlich genossen, dass das Medium Buch genauso funktioniert und es völlig in Ordnung ist, wenn ich Dinge geschrieben habe, die ich heute vielleicht schon ein bisschen anders sehe. Ich möchte mit dem Buch genau dazu anregen: dass Menschen sich weiterentwickeln. Ich habe es inzwischen ein bisschen geschafft, etwas Distanz zwischen mir als Privatperson und mir auf beruflicher Ebene zu schaffen. Es geht schließlich auch um meine Traumata, und das braucht natürlich eine immense Kraft.

STANDARD: Was bedeutet für Sie Identität?

Kühnert: Identität ist am Ende etwas sehr Individuelles und für jeden Menschen wahrscheinlich auch etwas anderes. Ich weiß gar nicht, ob es dafür eine richtige, feststehende Definition geben kann. Identität ist mein Selbst und bleibt immer ein Entwicklungsprozess. Ich habe mir lange Zeit in meinem Leben gewünscht, dass mein Entwicklungsprozess an ein Ziel kommt. Bis ich realisiert habe, dass ich das eigentlich gar nicht möchte und es schade wäre, wenn irgendwann mal Stillstand einträte.

Phenix Kühnert ist Aktivistin, Autorin, Model und seit 2018 Host des Podcasts "Freitagabend".
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Ein Teil feministischer Bewegungen kritisiert, dass ein zu großer Fokus auf Identität einem kollektiven Handeln im Weg stehen würde. Wie sehen Sie das?

Kühnert: Ich halte Repräsentationen für Lebensrealitäten, die lange Zeit nicht sichtbar waren, für sehr wichtig. Toleranz und Akzeptanz wird vor allem entstehen, wenn Menschen Empathie aufbauen und bestimmte Lebensrealitäten verstehen. Das habe ich in meinem Umfeld oft gemerkt. Menschen, die irgendwelche Berührungsängste hatten und dachten, sie stehen gleich vor einem Zirkuspferd – und nachdem sie mich kennengelernt haben, realisierten haben: Oh, das ist eigentlich gar nicht so aufregend. Wenn Menschen entdecken, dass Lebensrealitäten vielleicht auf manchen Ebenen gar nicht so anders sind, obwohl sie vorher sehr fern erschienen – genau das kann sehr verbindend sein.

STANDARD: Wo stehen wir in der Debatte um Transrechte?

Kühnert: Ich tue mir schwer, das definitiv zu beantworten. Auf der einen Seite war das Jahr 2021 in den USA das tödlichste Jahr für Transmenschen. Aber auch in Berlin war es das Jahr, in dem die meisten Übergriffe an queeren Menschen polizeilich erfasst wurden. Und die Dunkelziffer ist natürlich immens hoch. Das macht schon traurig. Ich sehe es auch an mir selbst und meinen Mitstreiterinnen, wenn wir auf Social Media aufklärenden Content machen wollen oder schlicht existieren – und uns gleich eine Welles des Hasses entgegenschlägt. Es passiert noch viel Mist da draußen, aber auf der anderen Seite sind wir schon viele Schritte gegangen. Und die dürfen wir auch zelebrieren. In Deutschland ist die Gesetzeslage auf keinen Fall ideal. Trotzdem sind wir an einem Punkt, wo die Gesetze für uns noch nie so gut waren wie heute.

STANDARD: Wann wurde Ihnen klar, dass Ihr Körpergefühl ein anderes ist als das der meisten in Ihrem Umfeld?

Kühnert: In meinen Teenagerjahren habe ich mich oft einfach falsch gefühlt. Wenn ich heute auf diese Zeit schaue, ist es fast absurd, dass mein Umfeld und ich selbst es nicht verstanden haben. Ich habe schon als kleines Kind gesagt, dass mein Leben einfacher wäre, wenn ich als Mädchen geboren wäre. Dass ich als Mädchen aber eben nur in einem anderen Körper als meine Freundinnen geboren wurde, verstand ich noch nicht.

STANDARD: Wann änderte sich das?

Kühnert: 2011 sah ich eine Talkshow mit Kim Petras. Sie war damals 18, und es wurde damals über sie gesagt, sie sei der jüngste Transmensch der Welt, der operativ etwas anpassen ließ. Ich war damals 15 und hab zum ersten Mal gesehen, was Trans sein kann. Ich habe angenommen, dass Kim scheinbar ihre Pubertät umgangen hatte und deshalb etwa keinen Stimmbruch hatte. Deshalb dachte ich, dass es für mich schon zu spät sei. Meine Pubertät hatte schon eingesetzt, und ich dachte, dass ich jetzt so irgendwie glücklich werden muss. Erst mit Anfang 20 habe ich realisiert, dass das nicht funktionieren wird. Es gab einen Tag, an dem es Klick gemacht hat – das war fast ein bisschen wie im Film. Ich saß auf meinem Bett, hab viel geweint, und auf einmal war mir klar, dass ich mein Leben so nicht weiterleben kann. Da stand für mich fest, dass die Unmöglichkeit, trans zu sein, kleiner war als die Unmöglichkeit so weiterzuleben.

STANDARD: Wie ging Ihre Familie anfänglich mit Ihrer Transidentität um?

Kühnert: Ich habe großes Glück, was meine Familie angeht. Mit meinen Eltern, meinen Geschwistern. Meine Schwester ist meine beste Freundin, mit ihr habe ich über sehr vieles gesprochen. Mit meinen Eltern habe ich früh Gespräche geführt, sobald mir klar wurde, was an mir von der Norm abweicht. Dass es nicht meine Sexualität ist, wie ich anfangs glaubte, sondern meine Geschlechtsidentität. Seither habe ich sie einfach immer bei meinen Entwicklungsschritten mitgenommen. Und manchmal bin auch den geringsten Weg des Widerstandes gegangen: Ich habe schon lange Social-Media-Content gemacht und dort viel über Queerness geschrieben. Meine Eltern sind auch auf Social Media und haben immer mitgelesen. Manches habe ich einfach auf Instagram gepostet – und ich wusste, dass sie es sehen würden. Heute sind meine Eltern meine größten Fans.

STANDARD: Sie haben bereits Ihre Traumata angesprochen. Was war für Sie besonders schwierig?

Kühnert: Ich habe gerade sehr positiv über meine Familie gesprochen, und das möchte ich auch nicht zunichtemachen. Aber Queerness fand in meinem Leben auf vielen Ebenen einfach nicht statt. Es war für mich etwas, was verschwiegen wurde. Konkrete Erfahrungen gab es viele, die bis heute sehr schwierig für mich sind. Viel hat mit Mobbing zu tun. Ich bin schon in meiner Jugend von der Norm abgewichen, und darunter leiden Kinder und Jugendliche leider sehr oft.

Das Mobbing ging hauptsächlich von Teenager-Jungs aus. Wenn ich die heute auf irgendeiner Dating-App sehe, schreiben sie mir manchmal und wissen gar nicht, wer ich bin. Ich werde niemals vergessen, was damals passiert ist, aber natürlich ist das für mich eine große Genugtuung, und ich erzähle es auch gerne, dass diese Typen, die damals so zu mir waren, heute gerne mit mir Kaffee trinken würden.

STANDARD: Fühlen Sie sich heute noch bedroht, wenn Sie als Transperson erkannt werden?

Kühnert: Ja, auf jeden Fall. Ich habe aber das große Privileg, dass ich inzwischen auf der Straße kaum Angst haben muss, blöd angemacht zu werden – oder dass Schlimmeres passiert. Ich hatte aber erst neulich das Gefühl, dass mich ein betrunkener Mann auf der Straße queerfeindlich beleidigt hat. Dadurch wurde mir klar, dass mir das seit Monaten nicht mehr passiert ist – und dass das lange mein Alltag war. Gerade in der Nähe von Gruppen junger Männer habe ich mich immer unsicher gefühlt. Allerdings hat sich vieles nur gewandelt, von queerfeindlichen hin zu sexuellen Übergriffigkeiten. Da kann man sich jetzt fragen, was schlimmer ist. Aber wie gesagt, ich bin in einer privilegierten Situation – auch weil ich beispielsweise öffentliche Verkehrsmittel an vielen Tagen des Jahres meiden kann.

STANDARD: Wäre es für Sie aus heutiger Perspektive gut gewesen, Pubertätsblocker zu nehmen?

Kühnert: Ja. Ich möchte gar nicht die große hormonelle Debatte führen, aber durch Hormonblocker die Pubertät erst mal hinauszuschieben, hätte mir viel gebracht. Wenn ich die Pubertät so nicht durchlaufen hätte, würde ich mich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit deutlich wohler in meinem Körper fühlen. Ein wesentlicher Aspekt, dass ich als trans erkannt werde, ist beispielsweise meine Stimme – und das bringt wiederum Unsicherheit. Es wäre auch ein Schutzaspekt, das darf man auch nicht vergessen.

STANDARD: Also halten Sie es für möglich, dass manche Transpersonen bestimmte hormonelle und operative Veränderungen vor allem deshalb machen, weil sie Angst haben, als trans erkannt zu werden?

Kühnert: Ich will das für andere Menschen nicht beurteilen. Ich tue mir mit der Frage schwer, was wäre, wenn ich allein auf einer einsamen Insel wäre? Wäre ich dann trans? Das ist irgendwie so fern von dem, wie wir leben, deshalb ist das schwer zu beantworten. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass ich Dinge in erster Linie absolut für mich selbst mache und nicht für andere.

STANDARD: Wie haben Sie den medizinischen Prozess empfunden? Fanden Sie rasch Ärzt:innen und Unterstützung?

Kühnert: Auch da hatte ich großes Glück. Um an Hormone zu kommen, muss man in Deutschland eine Psychotherapie anfangen, um wiederum die nötigen Gutachten für den Zugang zu hormonellen und operativen Behandlungen zu bekommen. Ich bin nur mit wenigen Umwegen an eine Person geraten, die sich meiner angenommen hat. Ich hatte auch Glück, einen Endokrinologen zu finden, der für mich Zeit hatte. Das ist in Berlin alles andere als einfach.

STANDARD: Die Anfragen an Transambulanzen werden seit Jahren deutlich mehr. Denken Sie, dass das nur an einer stärkeren Präsenz von Transpersonen in der Öffentlichkeit liegt?

Kühnert: Ja, junge Menschen wachsen heute damit auf, dass sie Menschen wie mich beispielsweise in so einem Interview lesen und sehen können.

STANDARD: Die Geschlechterkategorien Mann, Frau geben vielen auch eine bestimmte Art von Sicherheit. Können Sie das verstehen?

Kühnert: Bis zu einem gewissen Punkt ja. Ich bin ja auch eine binäre Frau. Ich glaube aber, aufgrund des Weges, den ich gegangen bin, und all dieser Gefühle, die ich hatte, hat sich mein Horizont erweitert. Dadurch kann ich Geschlecht nicht mehr in zwei oder vielleicht drei Schubladen stecken. Früher habe ich immer von einem Spektrum gesprochen, aber eine sehr kluge Person meinte mal zu mir, es ist eher ein Kosmos. Das klingt erst mal total esoterisch, und Leute werden dadurch vielleicht mal abgeschreckt. Aber wenn man sich dem einfach ein bisschen hingibt – und das klingt jetzt nicht weniger esoterisch –, wenn man das einfach akzeptiert und den Kopf dafür freimacht, dann wird es plötzlich wieder viel einfacher. (Beate Hausbichler, 2.2.2023)