Seit 2022 steht Barbara Staudinger dem Jüdischen Museum Wien als Direktorin vor.

Foto: Regine Hendrich

Die Ausstellung läuft bereits seit November, die Debatten über die Themenschau "100 Missverständnisse über und unter Juden" im Jüdischen Museum in der Wiener Dorotheergasse werden aber immer hitziger. Stereotype über Jüdinnen und Juden sollen darin be- und hinterfragt werden. Kritiker werfen der Ausstellung "Geschwurbel" vor, manche fordern sogar ihre Schließung. Das trifft Neo-Museumsdirektorin Barbara Staudinger sehr. DER STANDARD traf sie zum Gespräch.

STANDARD: Ihnen bläst angesichts der Ausstellung "100 Missverständnisse über und unter Juden" ein starker Wind entgegen. Hätten Sie nicht damit rechnen müssen?

Staudinger: Ich habe damit gerechnet, dass diese Ausstellung diskutiert wird, durchaus auch kontroversiell. Sie war als Zeichen einer Institution gedacht, die sich öffnen will, die den Diskurs sucht, zulässt und fördert, die politischer werden will. Es geht darum, Themen zu verhandeln, die schon lange hätten verhandelt werden müssen. Aber dass eine österreichische Zeitung jetzt von "Wiederbetätigung" schreibt, das ist absurd.

STANDARD: Die meisten der Objekte und Kunstwerke waren schon in anderen Ausstellungen zu sehen. Macht es einen Unterschied, wenn diese in einem jüdischen Museum und nicht in einem Kunstmuseum zu sehen sind, zumal in einem solchen eines Täterlandes?

Staudinger: Die Aufgabe und Rolle eines jüdischen Museums ist es, über jüdische Geschichte, über die Vielheit von jüdischen Meinungen und Perspektiven zu sprechen. Auch einige der jetzt inkriminierten Exponate waren bereits in jüdischen Museen wie in Israel oder in New York und im Jüdischen Museum Berlin zu sehen, also auch in einem Täterland. Nur in New York gab es kontroverse Diskussionen.

STANDARD: Heißt das, dass die jüdische Öffentlichkeit hierzulande anders tickt als etwa jene in Berlin?

Staudinger: Das glaube ich nicht. Jeder wird von einem Kunstwerk wie jenem von Boris Lurie, das einen Leichenwagen mit einem Pin-up-Girl zeigt, betroffen sein. Als dieses Kunstwerk 2016 im Jüdischen Museum in Berlin in einer Soloshow des Künstlers gezeigt wurde, wurde die Ausstellung von allen großen Medien sehr positiv rezipiert. Im Wiener Kontext wird das Kunstwerk jetzt zu einem Skandal gemacht, anstatt über Erinnerungskultur zu debattieren.

STANDARD: Wer hat Interesse an dem Skandal?

Staudinger: Das weiß ich nicht. Auf einer sachlichen Ebene gesprochen: Wir versuchen seit meinem Amtsantritt im Jüdischen Museum, einige Dinge anders zu machen. Das entzweit die Menschen, bereits vor der Ausstellungseröffnung entstand dadurch eine Atmosphäre, in der ein Skandal vorbereitet wurde.

STANDARD: Im Zuge der Ablöse von Danielle Spera als Direktorin des Jüdischen Museums traten viele Unstimmigkeiten in der jüdischen Gemeinde zutage. Ist die jetzige Aufregung eine Folge davon?

Staudinger: Das sind Dynamiken, von denen ich keine Kenntnis habe. Das Schöne ist, dass das Jüdische Museum Wien vielen Menschen sehr am Herzen liegt. Jetzt kommt jemand Neues, und da gibt es viele Reaktionen, von Umarmung bis zu Wegstoßen. Ich hätte die sachliche Debatte bei dieser Ausstellung bevorzugt, und es tut mir leid, dass die Emotion so hochgekocht ist.

STANDARD: Der Präsident der Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, hat Ihnen in einem offenen Brief ausrichten lassen, dass es Ihnen an Sensibilität mangle, und Sie zu einer öffentlichen Erklärung aufgefordert.

Staudinger: Der Brief wurde zu einem offenen Brief gemacht, er wurde an die Öffentlichkeit gespielt. Viele Stimmen in der jüdischen Gemeinde begrüßen einen anderen Umgang mit Erinnerungskultur und jüdischer Identität, viele Stimmen sehen diesen aber auch sehr kritisch und sind emotional betroffen. Das Gute ist, dass über die Ausstellung gesprochen wird, auch dass sie viele Besucherinnen und Besucher anzieht. Auf dem Museumsblog haben wir eine Erklärung zur Ausstellung abgegeben, ich habe Oskar Deutsch persönlich geantwortet. Damit glaube ich seiner Aufforderung entsprochen zu haben.

STANDARD: Sie haben auf erste kritische Stimmen mit drei Korrekturen an der Ausstellung reagiert. Welche Fehler haben Sie noch gemacht?

Staudinger: Es hat uns nicht an Sensibilität gemangelt. Es gibt sicher ein Missverständnis um den Begriff Missverständnis: Die Ausstellung handelt bewusst nicht von Vorurteilen, sondern von Missverständnissen, die zu Vorurteilen werden. Das ist ein Unterschied. Das zugrunde liegende Missverständnis lautet nämlich, dass Jüdinnen und Juden irgendwie anders sind. Dazu haben wir 100 Positionen gesucht und gefunden, nicht als Widerlegung dieser These, sondern um einen Denkprozess anzufachen, welche Bilder über Jüdinnen und Juden es in unserem Kopf gibt. Um dies zu unterstreichen, werden wir in den kommenden zwei Wochen eine weitere textliche Kontextebene in die Ausstellung einziehen.

STANDARD: Hat das Sprechen über das Judentum, hat die Erinnerungskultur in diesem Land klaren Regeln zu folgen, bzw. ist eine Auseinandersetzung damit schlichtweg nicht erwünscht?

Staudinger: Ich versuche dieses Sprechen breiter aufzustellen. Genau das bringt uns weiter. Einige von jenen, die sich jetzt kritisch äußern, haben die Ausstellung gar nicht gesehen. Es geht ihnen offensichtlich weniger um diese als um eine Weltanschauung, etwa um die Frage, darf eine Nichtjüdin ein jüdisches Museum leiten, wobei ich hier in Wien nicht die erste in einer solchen Position bin.

STANDARD: Angemerkt wird, dass auch der Co-Kurator der Ausstellung, Hannes Sulzenbacher, nicht jüdisch ist.

Staudinger: Mich wundert dieser Vorwurf sehr, auch die Kuratorinnen und Kuratoren im Team von Danielle Spera waren nicht jüdisch. Die Frage "Wer spricht in der Ausstellung?" ist eine spannende und berechtigte, sie sollte aber nicht auf eine Religionszugehörigkeit reduziert werden, sondern auf fachliche Eignung. Ich wüsste nicht, was es dem Jüdischen Museum hinzufügen würde, wenn ich jüdisch wäre. Was heißt überhaupt jüdisch? Und wer bestimmt darüber, wie richtig jüdisch man ist?

STANDARD: Es könnte Ihnen helfen, wenn Sie in der hiesigen jüdischen Gemeinde besser verankert wären.

Staudinger: Verankerung ist nicht per se durch eine jüdische Mutter oder durch eine Konversion gegeben. Sie muss sich durch Engagement in der Gemeinde auszeichnen.

STANDARD: Sie haben Ihre kommende Ausstellung, die sich um die Imagination einer "jüdischen Hautfarbe" drehen soll, verschoben. Ein Eingeständnis an Ihre Kritiker?

Staudinger: Nein, das Ausstellungskonzept war schlichtweg noch nicht ausgereift, das Team braucht mehr Zeit. (Stephan Hilpold, 1.2.2023)