Manchmal kommt es vor, dass man als Bürgerin und Medienkonsumentin gleichsam live erleben kann, wie sich in einer bestimmten Frage die öffentliche Meinung verändert. Der aktuellste Fall: die sogenannten Klimakleber.

Noch vor wenigen Monaten galten die jungen Leute, die sich, um auf die bevorstehende Klimakatastrophe aufmerksam zu machen, auf den Asphalt kleben, als Kriminelle. Neuerdings, zuletzt durch eine Rede des Bundespräsidenten, sehen die meisten ihre Aktionen zwar als in den Mitteln überzogen, aber grundsätzlich als berechtigt und nachvollziehbar an.

Noch vor wenigen Monaten galten die jungen Leute, die sich, um auf die bevorstehende Klimakatastrophe aufmerksam zu machen, auf den Asphalt kleben, als Kriminelle.
Foto: Regine Hendrich

Älteren Leuten fallen noch andere Beispiele dafür ein, wie einst Undenkbares allmählich akzeptabel und allgemein üblich wurde. Beispiel Sex. Noch in den Fünfzigerjahren wurde über dieses Thema überhaupt nicht gesprochen, weder in der Öffentlichkeit noch in den Familien. Mit dem Aufbruch rund um das Jahr 1968 wurde freie Liebe salonfähig und ist mittlerweile die Norm. Dann kam die Schwulen- und Lesbenbewegung mit ihren Regenbogenfahnen und Gay-Paraden. "Ich bin schwul, und das ist gut so", sagte der damalige Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit und brach damit ein Tabu. Und inzwischen gilt das auch für alle anderen Variationen auf der LGTBQI-Skala. Allzu viel Gendern und politische Korrektheit geht den Leuten nach wie vor auf die Nerven, aber mit dem Prinzip, das dahintersteht, sind die meisten einverstanden.

Frage des Lifestyle

Der Protest gegen diese Veränderungen äußert sich in FPÖ-Stimmen, in den sozialen Medien und in den Leserbriefen an die Kronen Zeitung. Hier agitiert man gegen den "Mainstream" und das sogenannte "System". Es geht dabei durchaus nicht nur um Politik im engeren Sinne, sondern ebenso sehr um Fragen des Lifestyle. Eine Minderheit ist hier tätig, aber eine nicht einflusslose und durchaus lautstarke.

Freilich, es gibt nicht nur Lockerungen in der öffentlichen Wahrnehmung von Sitten und Gebräuchen. Es gibt auch Verschärfungen. Steuerhinterziehung – beschönigend "Steuersparen" genannt – galt noch vor nicht allzu langer Zeit als Kavaliersdelikt. Auch Freunderlwirtschaft und Parteibuch-Usancen wurden als normal empfunden. Dass man, wenn man im öffentlichen Sektor etwas werden wollte, in Niederösterreich ein schwarzes und in Wien ein rotes Parteibuch haben musste, galt der heute alten Generation praktisch als Naturgesetz.

Diese Bräuche sind heute nicht verschwunden, aber sie werden thematisiert und kritisiert. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der Korruption, unzulässige Parteispenden oder Inseratenaufträge überprüft, wäre in früheren Jahren undenkbar gewesen.

Wir haben uns angewöhnt, die Verrohung der Sitten und die politischen Zustände in der Republik zu beklagen. Das ist nicht unberechtigt. Aber wir sollten gelegentlich auch daran denken, dass sich einiges in unserer Gesellschaft auch zum Positiven verändert hat. Nicht zuletzt das, was wir die öffentliche Meinung nennen. Oder eben "das System". (Barbara Coudenhove-Kalergi, 2.2.2023)