Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen war bei einem Solidaritätsbesuch in der Ukraine auch in der Stadt Butscha.

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Hinter der durchsichtigen, von innen an die Abteilfenster geklebten Folie, die den Passagieren des Sonderzugs vom polnischen Przemyśl nach Kiew im Notfall Schutz vor Glassplittern verspricht, sind in dieser Nacht alle gleich. Acht Stunden dauert die Fahrt, der Zug rollt abgedunkelt und ohne Zwischenstopp durch die nächtliche Ukraine.

Video: Van der Bellen in Butscha. Als erstes Reiseziel seiner zweiten Amtszeit wählte der Bundespräsident die von Russland angegriffene Ukraine. Dort legte er den Fokus auf die humanitäre Hilfe, die Österreich leistet
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Müdigkeit ist auf derlei Dienstfahrten eingepreist. Und sie macht auch nicht vor den Oberen halt. Nicht einmal vor Bundespräsidenten. Alexander Van der Bellen, der am Mittwochmorgen mit Umwelt- und Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) und Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) sowie Vertretern von Caritas, Volkshilfe und Rotem Kreuz im Schlepptau am Kiewer Hauptbahnhof dem Zug entsteigt, waren die Strapazen anzusehen.

Warum er sich die vergleichsweise beschwerliche Reise antut? "Es ist nicht dasselbe, mit jemandem per Zoom zu sprechen anstatt von Angesicht zu Angesicht", sagt der 79-Jährige – Restrisiko hin, Restrisiko her. Mit im Gepäck hat er nicht etwa Panzer oder Haubitzen, sondern dringend benötigte Generatoren und Baumaterial.

Der Bundespräsident reiste mit dem Zug an.
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Längst ist das Pendeln durch die ukrainische Nacht für Europas Mächtige zur Routine geworden. Seitdem Russland die Ukraine vor mehr als elf Monaten überfallen hat, hat auf den ukrainischen Schienen eine rege Reisediplomatie unter den westlichen Staats- und Regierungschefs eingesetzt. In engem Takt geben sich die Mächtigen im Kiewer Marienpalast, wo Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch auch Van der Bellen empfing, die Klinke in die Hand. Zuletzt geht es meist um Waffenlieferungen.

Neutrales Österreich

Van der Bellens Mission ist an diesem verschneiten Kiewer Februartag eine andere. Er habe die Ukraine als erstes großes Reiseziel in seiner zweiten Amtszeit gewählt, um dem angegriffenen Land die Solidarität Österreichs zu versichern. "Wir lassen die Ukraine nicht allein, sie ist einem Aggressionskrieg ausgesetzt, der in meinen Augen mit den Kolonialkriegen im 19. Jahrhundert vergleichbar ist." Das neutrale Österreich hilft humanitär, lautete das Mantra während der zwölf Stunden, die Van der Bellen in Kiew weilte. Militärisch, betont Van der Bellen, sei man zwar neutral, politisch aber keineswegs. 56 Millionen Euro hat allein Nachbar in Not, dessen Schirmherr der Bundespräsident ist, in einem Jahr gesammelt.

Van der Bellen wurde von Selenskyj in Empfang genommen.
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Zuletzt war Van der Bellen 2018 in Kiew, damals hieß sein Gegenüber Petro Poroschenko, Karin Kneissl (FPÖ) war Außenministerin, ihre Parteifreunde hatten kurz zuvor die von Russland annektierte Krim besucht. Fünf Jahre später zeugen die Reparaturarbeiten in Butscha davon, dass sich die Zeiten geändert haben. Eine halbe Stunde dauert es vom Zentrum Kiews in die westliche Vorstadt, die seit dem Massaker, das russische Truppen dort gleich zu Beginn des Krieges angerichtet haben, zur Chiffre für die Kriegsverbrechen des Kreml wurde. Die Leichname von 458 Menschen waren dort im vergangenen Frühling gefunden worden, viele wiesen Folterspuren auf. Nachbar in Not renoviert dort eine Schule, ihr Dach wurde mit österreichischer Hilfe erneuert, mehr als 200 Fenster ausgetauscht. In Kiew wird eine Kinderklinik von Österreich unterstützt.

Alexander Van der Bellen, Leonore Gewessler (Grüne), der ukrainische Umweltminister Ihor Schewtschenko sowie der ukrainische Präsident Wolodymiyr Selenskiyj luden zur Pressekonferenz in Kiew.
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"Keine Friedenstaube"

Selenskyj, auf Österreichs Neutralität angesprochen, bat seinen Gast um Hilfe bei der Minenentschärfung, um medizinische Einsatzfahrzeuge und um Anti-Drohnen-Systeme. Und darüber hinaus? Einerseits sei die Neutralität Österreichs ein Gesetz im Verfassungsrang, betonte Van der Bellen. Angesichts der ohnehin mageren Bestände im Bundesheer "wüsste ich auch gar nicht, was wir in dieser Situation liefern sollten", wie er ergänzte.

Dass Wien dereinst Ort für Verhandlungen werden könnte, schließt Van der Bellen auf Nachfrage nicht aus. Doch: "Ich sehe im Moment keinerlei Friedenstaube irgendwo fliegen, die eine diplomatische Initiative ermöglichte. (Florian Niederndorfer aus Kiew, 1.2.2023)